Eine Kolumne von Olga Hohmann

+1: Die Stimme erheben

Olga Hohmann besucht seit neuestem Konzerte, am liebsten in Begleitung eines +1. Mit dem berühmten Bus M29 fährt sie in Abendgarderobe in die Philharmonie und beschäftigt sich eine Spielzeit lang aus der Zuschauer:innenperspektive mit den Eigenheiten des Orchesters sowie des Publikums selbst. Denn: Auch vor den Kulissen spielt sich vieles ab, was häufig ungesehen bleibt.

Endlich Gesang!, denke ich als ich, krank im Bett, das Programm des DSO durchsehe und mich damit beschäftige, auf welche Konzerte ich mich in den nächsten Wochen freuen darf. Die Freude auf den Abend steigert sich für mich sofort – denn es ist dieses seltsam unsichtbare, im Körper des Menschen wohnende Instrument, die Stimme, das mir das liebste von allen ist. Wenn man Sänger:innen dabei zusieht, wie sie jene (für Laien aberwitzig klingenden) Töne hervorbringen, hat das immer auch einen fast voyeuristischen Charakter. Denn: Wie kann ein Menschenkörper sich, auf immaterielle Weise, so radikal im Raum ausbreiten, bis, wie man sagt, »die Wände wackeln«.

Es ist kein Zufall, dass in politischen Zusammenhängen, die Formulierung des »Stimme-Erhebens« oder »jemandem eine Stimme-Gebens« als etwas Empowerndes gilt: Stimme – egal ob geschrien, gerufen, gesprochen oder gesungen wird – nimmt Raum ein, definiert ihn und verändert ihn damit. Und dabei ist für Sängerinn:en selbst ihre Stimme nie so hörbar, wie sie es für die Zuhörer:innen ist – der Resonanzraum (die singende Person) kann sich selbst nicht zuhören und muss stattdessen spüren, ob sie den richtigen Ton trifft. Als Sänger:in muss man vertrauen in den eigenen (Resonanz)Körper haben und auch einen gesunden Pragmatismus. Denn: Resonanz erzeugt man ja nie allein, es ist eine Feedback-Schleife. Die eigene Stimme kommt anders zu einem zurück als man sie losgelassen hat. Es ist ironisch, dass ich gerade jetzt so intensiv über die Stimme als Medium nachdenke, denn ich habe meine eigene gerade verloren. Wenn ich den Mund aufmache, um zum Sprechen anzusetzen, kommt nur ein leises Pfeifgeräusch (aus der Lunge) zum Vorschein, aus dem Mundraum ein hauchiges Krächzen. Die Stimme zu verlieren, verunsichert mich zutiefst – es ist, als ob mir ein Sinn fehlen würde. Auf das Riechen zu verzichten wäre mir, zum Beispiel, lieber – obwohl der Geruch ja bei der Partner:innenwahl ausschlaggebend sein soll. Das Sprechorgan zu verlieren, ist also eine meiner größten Ängste – gleichzeitig passiert es mir häufiger als anderen, es ist meine wertvolle Achillesferse. Nicht auszudenken, unter welcher psychischen Belastung professionelle Sänger:innen stehen! Man sagt ja, dass die Stimme kurz vor ihrem Niedergang (durch Erkältung oder auch den Stimmwechsel in Teenagerjahren) besonders schön klingt, eine Art Schwanengesang. Ihr Verlust erfolgt häufig blitzartig, innerhalb weniger Stunden. Eine Freundin schreibt mir per SMS, es soll beruhigend sein: »Die Stimme kommt schon wieder, es ist bloß die Frage, wie sie dann klingt.« Im Bett sitzend freue ich mich jedenfalls, »Freude, schöner Götterfunken«, Beethovens Neunte, einmal aus dem Vollen geschöpft in einer geschmackvollen Version live geschmettert zu hören statt, in leicht sentimentaler Weise, immer nur um Mitternacht im Radio.