Eine Kolumne von Olga Hohmann

+1: Menschen als Instrumente

Olga Hohmann besucht seit neuestem Konzerte, am liebsten in Begleitung eines +1. Mit dem berühmten Bus M29 fährt sie in Abendgarderobe in die Philharmonie und beschäftigt sich eine Spielzeit lang aus der Zuschauer:innenperspektive mit den Eigenheiten des Orchesters sowie des Publikums selbst. Denn: Auch vor den Kulissen spielt sich vieles ab, was häufig ungesehen bleibt.

»Wenn du ein Instrument wärst, wärst du ein Cello«, sage ich zu meiner Freundin, die neben mir auf den fantastischen Plätzen im Block A sitzt, nach dem beeindruckenden Cello-Solo in der Komposition von Brett Dean. Sie wisse gar nicht, was ich meine, sagt sie, denn sie wäre ja ein Mensch, kein Musikinstrument – und natürlich hat sie Recht. Trotzdem trage ich die Frage noch ein wenig in mir herum, wende sie im Kopf hin und her, lasse sie widerhallen. Die Menschen, denen man im Block A begegnet, sind häufig dieselben. Man nickt sich, wissend und versonnen, zur Begrüßung zu, registriert kurz die, nur leicht variierenden, Outfits und Frisuren, und wendet sich dann wieder den eigenen Gedanken und Träumereien zu – ein bisschen so wie Stammgäste, die am Tresen hocken und auf die schwindenden Oberflächen ihrer Getränke schauen. »Psssst«, macht ein Gast im »Comme des Garçon PLAY«-Shirt mit dem aufgestickten Herz auf der Brust in der Reihe vor uns, als wir flüsternd die Frage nach der Identifikation mit dem Musikinstrument besprechend. Flüstern, lerne ich, ist durch die erzeugten Zischlaute noch störender als tiefes Raunen. Das Cello-Solo hatte mich, wie Musik es ab und zu tut, auf eine regelrechte Reise befördert. Es fühlte sich beinah so an wie das Rauschen der Großstadt, die sonst, auf dem Fahrrad sitzend, an mir vorbeizieht – ein Zustand, den ich, wenn der Herbst kommt und ich weniger und weniger schnell Fahrrad fahre (weil der Fahrtwind so kalt ist), sofort vermisse. Es scheint mir der einzige, irgendwie meditative Moment am Tag zu sein, in dem die »Stimmen im Kopf« endlich aufhören, durcheinander zu sprechen; sie werden übertönt von der buchstäblichen, vielstimmen »Symphonie der Großstadt«. Der Verkehr in der Stadt ist zum Glück immer lauter als der Verkehr im eigenen Hirn.

Auch die Instrumente, ob man sie nun animistisch »vermenschlicht« oder nicht, kommen mir vor, als wären sie in ein Gespräch versunken; ein intensives Für- und Wider einer großen Familie beim Abendbrot – oder als hätten die Stammgäste am Tresen zufällig doch mal von den Oberflächen ihrer Getränke aufgeblickt und wären ins Gespräch gekommen, vermutlich über Tagespolitik. Die Frage nach der Identifikation mit einzelnen Instrumenten bespreche ich dann noch mal ein paar Tage später, als ich die Kinder der Freundin von der Musikschule abhole – neunjährige Zwillinge. Die eine trägt ihr Cello, die andere ihre Bratsche auf dem Rücken. Jeweils identifizieren sie sich genau mit dem Instrument, das sie spielen. Zwischen Bratsche und Cello spaziere ich also über den Winterfeldtplatz und sage: »Ich glaube, ich bin eine Trompete.« Die beiden sind sich (ungewöhnlicherweise) sofort einig: »Nein, wir kriegen eher so Klarinetten-Vibes von dir.« Stolz spaziere ich zwischen ihnen her, betrachte mein Gesicht kurz in einem Autospiegel und höre innerlich sofort die raunende, aber bewegliche Stimme der Klarinette.