Eine Kolumne von Olga Hohmann

+1: Die Zeit in den Händen halten

Olga Hohmann besucht seit neuestem Konzerte, am liebsten in Begleitung eines +1. Mit dem berühmten Bus M29 fährt sie in Abendgarderobe in die Philharmonie und beschäftigt sich eine Spielzeit lang aus der Zuschauer:innenperspektive mit den Eigenheiten des Orchesters sowie des Publikums selbst. Denn: Auch vor den Kulissen spielt sich vieles ab, was häufig ungesehen bleibt.

Als unbedarfte Konzertbesucherin fragt man sich regelmäßig, worin eigentlich genau der Job von Dirigent:innen besteht. Die Aufgabe, die die vom Zuschauerraum so winzig wirkende Person auf dem Podium erfüllt, ist so komplex und gleichzeitig so subtil, dass man manchmal vergisst, ihr genug Beachtung zu schenken. Das liegt nicht zuletzt auch daran, dass diese besonders wichtige Person dort unten, einem selbst, oben im Rang sitzend, den Rücken zukehrt. Ihre Hand­bewe­gungen sind manchmal kaum zu sehen, die Auswirkungen dieses manchmal dezenten kleinen Tanzes, den sie mit ihren Händen vollführt, dafür umso stärker zu hören – und zu spüren. Mit ihren Fingern und ihrem Gesicht trifft sie Entscheidungen, die in der Konsequenz den ganzen, riesigen Raum erfüllen, es sind emotionale, intellektuelle und rein musikalische Entscheidungen gleichzeitig. Sie sind sowohl analytisch als auch intuitiv. Es ist eine Sprache ohne Worte, und was wir hören ist eine raumgreifende Übersetzung des Orchesters – der Ausdruck der Dirigentin überträgt sich noch einmal in den Raum, sie wird von allen Musizierenden zwar individuell interpretiert und erzeugt dabei doch ebenjenes Zusammenspiel, das den spezifischen Gesamtklang ausmacht, der im Begriff der »Symphonie« eingeschrieben ist. Musik ist hier Teamsport.

Als ich zum Jubiläum meines Kinderchores, nach über zehn Jahren von meiner damaligen Chorleiterin dirigiert, ein Lied singe, fühle ich mich, als wäre ich in einem immateriellen Zuhause angekommen, dessen Existenz ich bereits vergessen hatte. Ihre mal sanften, mal bestimmten, zuweilen fast aggressiven Bewegungen sind mir vertrauter als mein eigenes Gesicht im Spiegel – und das, obwohl ihr Dirigat extrem zurückhaltend ist. Ich habe diese zwei Hände so oft angeschaut, dass ich einerseits antizipieren kann, was sie als nächstes tun werden, und ihnen andererseits blind genug vertraue, um mich von ihnen überraschen zu lassen. Es kommt mir vor, als könnte ich fast die Augen schließen und dennoch der von ihnen erzeugten Bewegung in der Luft folgen. Auch die Stücke selbst haben sich in ein außersprachliches Gedächtnis eingebrannt – fängt man einmal an zu singen, merkt man, dass alles noch da ist. »Eine Dirigentin muss doch mehr sein als ein menschliches Metronom«, sagt der Interviewer zu der Stardirigentin, die, nach langem Überlegen, antwortet: »Die Zeit zu halten, die Zeit zu machen, das ist doch schon sehr viel«. Und so ist in der Autorität jenes Taktschlages nicht nur die unmittelbare Gegenwart enthalten, sondern auch viele, ganz private Geschichten und Erinnerungen, die gemeinsam in ein wortloses Gespräch kommen.