Eine Kolumne von Olga Hohmann

+1: Blühende Lampen

Olga Hohmann besucht seit neuestem Konzerte, am liebsten in Begleitung eines +1. Mit dem berühmten Bus M29 fährt sie in Abendgarderobe in die Philharmonie und beschäftigt sich eine Spielzeit lang aus der Zuschauer:innenperspektive mit den Eigenheiten des Orchesters sowie des Publikums selbst. Denn: Auch vor den Kulissen spielt sich vieles ab, was häufig ungesehen bleibt.

Auf dem Absatz des zweiten Stocks öffnet mein Nachbar die Tür und sagt, er hätte meine Absatzschuhe auf der Treppe klackern gehört, »ob ich heute etwas Besonderes vorhätte?«. »Ja«, sage ich, »ich gehe in die Philharmonie«. »Oh, die Philharmonie!« antwortet er und bittet mich herein – er wolle mir kurz etwas zeigen. Ich schaue auf mein Smartphone und entscheide spontan, erst den übernächsten Bus zu nehmen – ich hatte extra Zeit eingeplant, um noch Canapés zu essen, bevor das Konzert losgeht. Die müssen bis zur Pause warten. Mein Nachbar ist achtundachtzig Jahre alt. Wir kennen uns seit dreißig Jahren. Beim Hereingehen erzählt er mir, wie ich als Kind immer laut gesungen habe, wenn ich an der Hand meines Vaters die Treppe rauf- und runterspazierte. Im Wohnzimmer zeigt er auf eine große Blume. Sie ist genauso groß wie er selbst, und als ich mich ihr mit der Hand nähere, erschrecke ich mich, denn die Blüte bewegt sich. Sie besteht aus cremefarbenen Blütenblättern auf einem dünnen metallenen Stiel, der sich, dem Gewicht des Kopfes folgend, in verschiedene Richtungen neigt. Mein Nachbar drückt einen Knopf und die Blüte ist plötzlich von warmem Licht erfüllt – sie ist eine Lampe. Er erklärt mir, sie sei eine Konstruktion aus den 50ern, die er damals von dem Designer Günter Ssymmank, seinem Professor an der TU, persönlich geschenkt bekommen habe. Seit mehr als sechzig Jahren bewegt sie sich nun anmutig im Kreuzberger Wohnzimmerwind. Er erzählt mir, dass die Lampen in der Philharmonie vom selben Designer entworfen wurden.

Nun bin ich doch spät dran: Ich haste auf meinen High Heels zum Oranienplatz und kriege gerade noch so den Doppeldeckerbus, der mich zur Potsdamer Brücke bringt. Die Menschen schauen mich komisch an, ich bin overdressed. Als ich ankomme, höre ich schon den Gong. Im Vorbeihetzen sehe ich die Ssymmank-Lampen im Foyer, sie sind ebenfalls cremefarben und sehen aus wie der modische Zierlauch. Auf meinem Platz angekommen, wird die Saalbeleuchtung, die an einen Sternenhimmel erinnert, sanft gedimmt. Es ist angenehm, dass es im Konzertsaal nie ganz dunkel wird – es gibt keine Illusion des unsichtbaren Publikums. Während das Orchester die Bühne betritt, denke ich, klatschend, darüber nach, dass der Begriff der »Symphonie« »zusammen­klingen« bedeutet – die Zuschauer:innen werden als Teil des Gesamtklanges ernst genommen, so impliziert es Hans Scharouns Architektur. Dann werde ich aus meinen Gedanken gerissen, denn das Konzert beginnt und ich schließe die Augen.