Eine Kolumne von Olga Hohmann

+1: Schwarze Tränen

Olga Hohmann besucht seit neuestem Konzerte, am liebsten in Begleitung eines +1. Mit dem berühmten Bus M29 fährt sie in Abendgarderobe in die Philharmonie und beschäftigt sich eine Spielzeit lang aus der Zuschauer:innenperspektive mit den Eigenheiten des Orchesters sowie des Publikums selbst. Denn: Auch vor den Kulissen spielt sich vieles ab, was häufig ungesehen bleibt.

Es geschieht fast nie, aber wenn es passiert, dann mit Gewalt. Ich erinnere mich noch genau an das erste Mal – und neulich in der Philharmonie geschah es wieder: Ein musikalisches Ereignis rührte mich zu Tränen. Das erste Mal war es ebenfalls ein Symphoniekonzert, in diesem Fall in Leipzig, und ich war etwa fünfzehn Jahre alt. Das Gefühl fing in den Füßen an und wanderte dann die Arme hoch, zuerst in Form von Gänsehaut, dann ein Beben, und irgendwann fing ich so laut an zu schluchzen, dass die Leute in der Reihe vor mir sich umdrehten und die Zeigefinger auf die Lippen legten. Ich nickte ihnen beschwichtigend zu, der Tränenfilm auf meinen Augen ließ mich sie nur schemenhaft erkennen, und versuchte, meinen Ausbruch wieder unter Kontrolle zu bekommen, aber er war hartnäckiger, als ich dachte. Ich erinnere mich gut an den Anblick meines eigenen Gesichtes in der Pause – mein Spiegelbild war überzogenen von tiefschwarzen Streifen. Ich hatte selbst vergessen gehabt, dass mein Mascara nicht wasserfest war. 

In diesem Fall war es ein Trompetensolo, das mich zum Weinen brachte. Es war die Körperhaftigkeit dieses pfeifenden, singenden, trötenden In strumentes und die Virtuosität des Solisten, die ans Groteske grenzte, und damit noch schillernder wurde. Es war die Tatsache, dass das Orchester so empathisch und großzügig war in ihrem Spiel, dass diese riesige Menge an Menschen völlig selbstlos und uneitel diesen einen Einzelnen unterstützte, trug regelrecht, wie eine Materie, Wasser oder Luft. Es war die Tatsache, dass Menschen, klitzekleine Geschöpfe, sich in ihrem kurzen Leben auf der Welt die Zeit damit vertrieben, solche ganz und gar unnützen und damit umso göttlicheren Werke zu verfassen. An diesem Abend war es geistliche Musik gewesen, die mich zum Weinen gebracht hatte, Johann Sebastian Bach, und ich hatte geglaubt zu verstehen, dass eine höhere Macht existierte, weil Menschen ihr solche Klänge widmeten – dass »Gott« (welcher auch immer) in der Musik selbst existierte. Dieses Mal war es die genreübergreifende Komposition einer in der Gegenwart lebenden Frau, die mich zu Tränen rührte. Der Mut, den es bedarf, um angstfrei zu zitieren, um sich zu bedienen an den musikalischen Errungenschaften der letzten Jahrhunderte. Ich dachte an meine Freundin, die sofort Tränen in den Augen hatte, als sie erstmals eine weibliche Dirigentin sah – und ich selbst war gerührt von der Normalität, der Ernsthaftigkeit und Nebensächlichkeit, mit der die Komposition einer weiblichen Komponistin aufgeführt wurde, ohne dass diese Eigenschaft (eine Frau zu sein) noch einmal erwähnt und markiert werden musste. In die Jazzklänge mischte sich Handels ›Lascia ch’io pianga‹, und ich heulte mich fröhlich und erleichtert aus, anders als damals in Leipzig, und dachte daran, dass man »Lasst mich einfach weinen« auch emanzipatorisch lesen kann.