Eine Kolumne von Olga Hohmann

+1: Erhabenes Musizieren

Olga Hohmann besucht seit neuestem Konzerte, am liebsten in Begleitung eines +1. Mit dem berühmten Bus M29 fährt sie in Abendgarderobe in die Philharmonie und beschäftigt sich eine Spielzeit lang aus der Zuschauer:innenperspektive mit den Eigenheiten des Orchesters sowie des Publikums selbst. Denn: Auch vor den Kulissen spielt sich vieles ab, was häufig ungesehen bleibt.

Schon wieder war ich zu spät dran. Ich hechtete an dem Straßenmusiker vorbei, der immer die ›Star Wars‹-Melodie spielt – und vermutlich insgeheim hofft, vom Chefdirigenten entdeckt zu werden – und traf genau zwei Minuten vor acht am Ort ein, an dem ich mit meinem +1 zusammentreffen wollte: Den beiden riesigen goldenen Glocken im Foyer. Was genau es mit diesen Glocken auf sich hat, weiß ich tatsächlich noch immer nicht, aber sie sind ungefähr so groß wie ich selbst und eignen sich hervorragend dafür, sich vor ihnen zu verabreden, ein bisschen so wie die Skulptur ›Tanzendes Paar‹ auf dem Hermannplatz. Die Toilettenschlange war, wie immer, erschreckend lang – die Wartezeit magischerweise aber, das war ich ebenfalls schon gewohnt, sehr kurz. Dann begann das Konzert. Dieses Mal war es, damit kann man nicht rechnen, wirklich einer dieser Momente, die »otherworldly« sind. Die Solistin spielte so nuanciert, humorvoll und düster, dass man das Gefühl hatte, in einem intimen, sprachlosen Gespräch mit ihr zu sein. Ihr Spiel überschritt alles, was man im profanen Sinne ausdrücken kann und war gleichzeitig so menschlich und nahbar, dass man sich ihm nicht entziehen konnte. Sie schwamm als Schaumkrone auf einem Bett aus Wellen, das das Orchester ihr bereitete – musizieren ist Teamsport, kein Wettkampf, das stand für mich fest. Der Moment war so heilig, dass ich mich nicht mal traute, eine Notiz zu machen – ich war vollkommen absorbiert von dem Klang und gleichzeitig gespannt wie bei einem Blockbuster: Was wohl als nächstes geschehen würde? »Das Erhabene«, lerne ich, ist ein Moment, in dem man sich sicher und bedroht gleichzeitig fühlt – das Betrachtete übersteigt das eigene »Fassungsvermögen«, es ist kaum begreiflich – gleichzeitig kann man sich ihm nicht entziehen.

Bei Immanuel Kant wird das Betrachten eines Eisbergs beispielhaft für eine Erfahrung des Erhabenen beschrieben – ein Konzept, das sich heutzutage nicht mehr einlöst, denn der schmelzende Eisberg ist natürlich kausal mit dem ihn betrachtenden Subjekt verbunden. Ein ähnliches Phänomen, wie wenn man feststellt, dass »übers Wetter reden« kein Smalltalk-Thema mehr ist. Wenn man das »Erhabene« (im Englischen: sublime, was psychoanalytisch noch viel mehr Ebenen hat) also nicht mehr in der Natur finden kann, dachte ich, muss man es vielleicht tatsächlich in der Musik suchen. Als das knapp einstündige Solo vorbei war (ich hatte den Raum noch nie so still erlebt, man hätte eine Nadel fallen hören können), musste ich mich erst einmal erholen. Ich fühlte mich, im besten Sinne, zerzaust – durchgeschüttelt von der unerwarteten Grenzerfahrung. In die Philharmo- nie zu gehen, ist nunmehr keine angenehme Sonntagabendbeschäftigung mehr für mich, es fühlt sich seit diesem Erlebnis regelrecht gefährlich an. Denn man weiß ja nicht, was einen dort an Grenzerfahrungen erwarten wird.