Olga Hohmann besucht seit neuestem Konzerte, am liebsten in Begleitung eines +1. Mit dem berühmten Bus M29 fährt sie in Abendgarderobe in die Philharmonie und beschäftigt sich eine Spielzeit lang aus der Zuschauer:innenperspektive mit den Eigenheiten des Orchesters sowie des Publikums selbst. Denn: Auch vor den Kulissen spielt sich vieles ab, was häufig ungesehen bleibt.
Manchmal ist ein Outfit da, bevor sich die Gelegenheit ergibt, es zu tragen. Und manchmal muss man den Anlass für das Tragen eines Kleidungsstückes regelrecht produzieren, um dem Outfit den großen Auftritt zu geben, den es verdient. Das Vivienne-Westwood-Kostüm war ein Erbstück von einer noch lebenden Person, der Großmutter einer Freundin nämlich, einer exzentrischen Lady schon weit über Achtzig, die sich entschieden hatte, ihre Garderobe an jüngere Frauen zu verschenken. Ihr Kleiderschrank: das Psychogramm eines starken Charakters und gleichzeitig ein historisches Dokument. Die »Dame von Welt« war am Sammeln von Avantgarde jedes Bereiches interessiert gewesen, und weil sich die (Kunst-)Geschichte zyklisch zu wiederholen scheint, war sie »right in time«, um meiner Freundin und mir die wertvollen Stücke zu schenken – denn vieles von dem, was sie in den 70ern erworben hatte, ist gerade jetzt wieder en vogue. So zum Beispiel ihre Jean-Paul-Gaultier- und Yves-Saint-Laurent-Zweiteiler und eben auch jenes rotblau gestreifte, glänzende Vivienne-Westwood-Kostüm mit dem unverkennbaren, wenn auch enigmatischen Logo.
Mit Augen glänzender als das Kostüm, stiegen wir in die Kleider und machten uns gegenseitig die Verschlüsse auf und zu – meine Freundin beschwerte sich, was für eine schwierige Stadt Berlin wäre, wenn es um das Tragen von exzentrischer Fashion gehe. Ich freute mich, widersprechen zu können, denn ich hatte ja nun regelmäßige Anlässe, um mich glamourös zu kleiden: meine Besuche in der Philharmonie. Es scheint am Gebäude selbst zu liegen, dass es die Frage nach »Overdressedness« nivelliert. Man liegt nie falsch – man kann die Architektur genau so interpretieren, wie man es möchte: Sie gibt allen Formen der Garderobe einen Anlass. Wie ein Chamäleon erhebt sie sich als Bühne um diejenigen herum, die gesehen werden wollen (dieses Mal: ich) und lässt jene verschwinden, die unsichtbar bleiben wollen (ebenfalls ich, an anderen Tagen). ähnlich verhält es sich mit dem Orchester selbst – diejenigen der Musiker:innen, die in High Heels spielen, sind in dieser Entscheidung glaubwürdig und jene, die sich für schlichte schwarze Kleidung entscheiden, fügen sich ebenfalls harmonisch ein. Das »Zusammenklingen«, wie es der Begriff »Symphonie« schon in sich trägt, ergibt sich aus der Vielstimmigkeit, zu der die Unverwechselbarkeit der Einzelnen gehört. Dazu gehört auch die Konzertmode als Ausdrucksmittel. Und so war ich in meinem Westwood-Kostüm im Konzertsaal genau am richtigen Ort, bekam die Blicke, die meine Kleidung wollte – ebenso wie an anderen Tagen die bescheidene Zurückhaltung. Für den Weg zum Potsdamer Platz, im Bus M29 sitzend (beziehungsweise stehend, ich wollte mich nicht schmutzig machen), galten andere Regeln. Aber dazu mehr beim nächsten Mal.