Olga Hohmann besucht seit neuestem Konzerte, am liebsten in Begleitung eines +1. Mit dem berühmten Bus M29 fährt sie in Abendgarderobe in die Philharmonie und beschäftigt sich eine Spielzeit lang aus der Zuschauer:innenperspektive mit den Eigenheiten des Orchesters sowie des Publikums selbst. Denn: Auch vor den Kulissen spielt sich vieles ab, was häufig ungesehen bleibt.
Immer wieder fällt mein Blick auf die High Heels einer Violinistin, die so hoch sind, dass ich mich intuitiv frage, ob nicht bereits die paar Schritte zum Stuhl ein sportlicher Akt sind. Und noch viel mehr: Das Spielen in den hohen Schuhen, das zwar im Sitzen stattfindet, dennoch aber ein so somatischer, körperlicher Akt ist, dass man sich fragt, ob etwas Bodenhaftung nicht eigentlich von Nöten wäre. Ich bewundere die in Berlin so rare Geste, sich, rein für die Freude am Glamour, für den Beruf aufbrezeln zu dürfen und nehme mir, wie immer, vor, mir ein Beispiel an ihr zu nehmen. Der Konzertbesuch bleibt einer der wenigen Momente in meinem Alltag, in denen ich mich in der modisch unterkühlten Stadt endlich einmal herausputzen kann. Ich lasse den Blick von den faszinierenden High Heels wandern und mir fällt auf, wie viele Nuancen der Farbe Schwarz einem bei der genauen Betrachtung der Garderobe des Orchesters begegnen – und wie viele unterschiedliche Texturen. Glänzende Lackschuhe wechseln sich mit wilder Leinen-Seide-Mischung ab, jede Musiker:in hat ihre eigene Antwort, ihre eigene Interpretation des vorgegebenen Dresscodes gefunden: Auch modisch passiert hier das, was der Begriff des »Symphonischen« impliziert: Ein Gleichklang, ein Zusammenspiel in radikaler Diversität.
Die Individualität ist signifikant für den gemeinsamen Klang, gleichzeitig offenbart sie sich erst auf den zweiten oder dritten Blick bzw. beim zweiten oder dritten Zuhören, denn für die Zuschauer:innen suggeriert sich Verschmelzung. Eigentlich eine Utopie, würde man meinen. Dass diese Utopie viel harte Arbeit und eine gewisse Bodenständigkeit der einzelnen Individuen voraussetzt, wird ebenfalls nicht sofort offenbar, denn es ist die Leichtigkeit, die sich vermittelt. »Nicht die Geige!« schrien wir als Kinder, wenn unser Cousin an Weihnachten seine Violine herausholte, die er seiner Meinung nach virtuos, unserer Meinung nach ohrenbetäubend spielte. Ein gut gespielter Violinvortrag mutet häufig schlicht an – ganz im Gegensatz zu dem unseres Cousins. Die Extravaganz offenbart sich nicht sofort, im Gegenteil, sie liegt als vielfach geschichteter Untergrund jahrelangen Trainings unter dem konzentrierten Spiel: Ein bisschen so wie die Texturen der Kleidung der Spielenden erst nach einigen Konzerterfahrungen in Erscheinung treten. Der Eleganz der Spielenden liegt also ein Pragmatismus zugrunde, eine starke Gravitation und Bodenhaftung, und wenn auch nicht unbedingt Bodenständigkeit, dann doch immerhin Beständigkeit. Ganz egal wie hoch die Pfenningabsätze sind.