Olga Hohmann besucht seit neuestem Konzerte, am liebsten in Begleitung eines +1. Mit dem berühmten Bus M29 fährt sie in Abendgarderobe in die Philharmonie und beschäftigt sich eine Spielzeit lang aus der Zuschauer:innenperspektive mit den Eigenheiten des Orchesters sowie des Publikums selbst. Denn: Auch vor den Kulissen spielt sich vieles ab, was häufig ungesehen bleibt.
Dass es die »Liebesnacht« in der Philharmonie werden würde, hatte ich irgendwie verdrängt. Ich stolperte um kurz vor acht an dem Hornisten vor der Eingangstür vorbei, nach meinem +1 Ausschau haltend, das ich lange nicht gesehen hatte. Ich war verspätet mit einem ICE aus Düsseldorf angekommen und hatte bis zur letzten Minute im Zug gearbeitet. Nun stand ich, leicht dissoziierend, in der Menge feierlich angezogener Menschen im Foyer und las im Programmheft, das mich, nach der Pause 75 Minuten Richard Wagner erwarten würden. Ich war bisher, zugegebenermaßen, keine große Wagner-Freundin gewesen, aber entschied, dem Spektakel eine Chance zu geben. Hinter mir saß ein betagter Mann, der seiner Berliner Schnauze freien Lauf ließ und alle Details des Konzerts humoristisch kommentierte. Nach dem Stimmen der Instrumente sagte er, zum Beispiel, zu seiner Partnerin (ein Witz): »Dit Stück jefällt ma nich.« Ich selbst dachte an einen Witz, den ich an Silvester in der Zeitung gelesen hatte: »Und am achten Tag erschuf Gott die Dialekte. Alle Wölkchen waren glücklich. Nur der Berliner war traurig, für ihn war keiner mehr übrig. Da sagte Gott: ›Macht nüscht, meen Kleener, quatsche halt wie icke hier‹.« Dann dachte ich an Arnold Schönberg, der sagt: »Kunst kommt nicht von können, sondern von müssen.«
Als die konzertante Aufführung des Zweiten Aufzugs von ›Tristan und Isolde‹ da vorne begann, war jedenfalls klar, dass sowohl die Sänger:innen als auch das Orchester sich der »göttlichen« Dimension des »Müssens« hingegeben hatten. Als sie durch die Tür in den Raum kamen, erinnerte ich mich erst an die Eigenart von Sänger:innen, auch bei Konzerten ihre darstellerische Expertise an den Tag zu legen. Tristan und Isolde spielten, sie sähen sich, nach der Einnahme des Liebestrankes, zum ersten Mal. Sie spielten dabei, noch stumm, die ganz ganz großen Gefühle. Und nach einem Moment der Überraschung ob des vorgetragenen Magnetismus dort vorne sprangen sie auf das Publikum über. Manche lachten, manche weinten, während die Solist:innen über eine Stunde lang Reime sangen, besonders beeindruckend im Duett: »Wie sie fassen, wie sie lassen? Diese Wonne, fern der Sonne. Fern der Tage, Trennungsklage!« Und das Orchester spielte, »orgiastisch«, wie mein +1 sagte, dazu. Und alle wussten: Die unmögliche Liebe ist nicht nur die romantischste, sondern auch die erotischste. Am Ende des Konzertes gab es, zurecht, Standing Ovations, die Stimmung war großartig. Summend und singend und Händchen haltend verließen Menschen aller Generationen die Philharmonie. Alle wussten: Etwas Göttliches war geschehen, und der groteske Anteil der Mimesis, die dort unverhofft stattgefunden hatte, verstärkte die Metaphysik nur noch.