Eine Kolumne von Olga Hohmann

+1: Können und müssen

Olga Hohmann besucht seit neuestem Konzerte, am liebsten in Begleitung eines +1. Mit dem berühmten Bus M29 fährt sie in Abendgarderobe in die Philharmonie und beschäftigt sich eine Spielzeit lang aus der Zuschauer:innenperspektive mit den Eigenheiten des Orchesters sowie des Publikums selbst. Denn: Auch vor den Kulissen spielt sich vieles ab, was häufig ungesehen bleibt.

»Kunst kommt nicht von können, sondern von müssen«, schreibt Arnold Schönberg. Und schon wieder bin ich unerwarteterweise mit einem Virtuosen konfrontiert. Der Brite, geboren im selben Jahr wie ich selbst, bestätigt in einem Interview, er hätte sich das fast eineinhalbstündige Busoni-Konzert ausgesucht, weil es eines der schwersten Klavierkonzerte darstelle, die jemals geschrieben wurden. Eigentlich bräuchte man statt zwei, drei oder vier Hände, um die Partitur spielen zu können. Die Aufgabe ist sowohl sensorisch, emotional, interpretatorisch wie auch kognitiv eine der herausforderndsten, die man sich vorstellen kann. Es ist ein hyperlebendiges Zwie-, nein, mindestens Trigespräch zwischen Solist, Orchester, Dirigent und Männerchor. Auffällig sind dieses Mal die Pausen, die Unterbrechungen, das Innehalten: Immer wieder nimmt der sowohl besessen, als auch professionell-konzentriert wirkende Pianist die Hände von den Tasten, hört dem Orchester zu und antwortet dann ebenso manisch wie glaubwürdig-überlegt. Die Tonfolgen sind einstudiert, aber sie wirken auch spontan, als hätte der Pianist sie geträumt, zu einem luziden Bild verfestigt und dann wieder vergessen – um sie nun, in aller Unmittelbarkeit, wieder aus dem Gedächtnis herauszuholen, sich, spielend, zu erinnern.

Warten muss auch der Mann, der das Becken bedient. Er nimmt die riesigen goldenen Metall-Teller in die Hände und schaut aufmerksam gen Dirigent, bis er sie – eine Erlösung – auf ein unsichtbares Zeichen hin mächtig gegeneinanderprallen lässt. Dann verlässt er die Metallteile wieder, legt sie behutsam ab und geht rüber zum Xylophon. Immer sind es die Schlagwerkspieler:innen, die sich besonders frei im Konzertsaal zu bewegen scheinen: Mal spielen sie das unsichtbare Glockenspiel, mal haben sie ein Trommelsolo. Mal haben sie eine Melodie zu spielen, mal nur ein Geräusch zu machen. Ebenso warten muss der Männerchor, bevor er sich, im letzten Teil, plötzlich erhebt und sanft, wie ein Echo von Weitem, in das komplexe Klanggebilde einfügt. Wie ein Gesang aus dem Nebel scheint es, als ob die Stimmen näherkommen, erstarken – und sich dann wieder verflüchtigen. Vorne spielt sich der junge Brite, wie man sagt, »die Finger wund« – immer die Norm überschreitend und doch kontrolliert. Am Ende schaut er vergnügt und bescheiden ins Publikum, während er Standing Ovations bekommt. Dann setzt er erneut an, zu Schumanns ›Abendlied‹. Und plötzlich ist es nicht mehr die Virtuosität, die das ganze Publikum mitreißt, sondern die Direktheit, die Einfachheit, mit der er das Stück (seine selbst gewählte Zugabe) vorträgt. Zu Tränen gerührt schauen wir den Vollmond über der Philharmonie an – und spazieren Richtung M29er, vorbei am falschen Vollmond der Künstlerin Isa Genzken, der neben der Neuen Nationalgalerie angebracht ist. Ein doppelter Vollmond.