Eine Kolumne von Olga Hohmann

+1: Die Tür ins Nichts

Olga Hohmann besucht seit neuestem Konzerte, am liebsten in Begleitung eines +1. Mit dem berühmten Bus M29 fährt sie in Abendgarderobe in die Philharmonie und beschäftigt sich eine Spielzeit lang aus der Zuschauer:innenperspektive mit den Eigenheiten des Orchesters sowie des Publikums selbst. Denn: Auch vor den Kulissen spielt sich vieles ab, was häufig ungesehen bleibt.

Neben der Eingangstür zum fantastischen Block A in der Philharmonie befindet sich noch eine zweite. Man übersieht sie häufig. Erst, wenn sich die Tür öffnet, um die jeweiligen Dirigent:innen oder Solist:inen auszuspucken, registriert man sie. Besonders lustig ist das, wenn jene Solist:innen, wie bei der konzertanten Aufführung von Wagners ›Tristan und Isolde‹, beim Betreten des Raums schon »in character« sind und, wie in jener Oper, spielen, sie würden sich, aus der Distanz aufeinander zulaufend, leidenschaftlich ineinander verlieben. Immer wieder öffnet sich also diese Tür, von der man kaum antizipieren kann, wohin sie führt – denn man selbst hat den Raum ja in unmittelbarer Nähe zu ihr gerade erst betreten und dabei nicht einmal registriert, dass sich innerhalb des Foyers ein Raum, das »Backstage«, befindet: Ein weiteres kunstvolles Moment in der Architektur Hans Scharous: Die Räume verstecken sich (voreinander). Es kommt einem also so vor, als kämen die Musikstars aus dem Nichts, so wie eine Figur, die plötzlich aus einer unsichtbaren Falltür erscheint, die sowohl den Himmel als auch die Hölle repräsentieren könnte. Und ein bisschen so ist es ja auch, denn sie beschwören im Konzertsaal sowohl das Himmlische als auch das Abgründige herauf. Musik zu hören ist emotional, es ist per se immersiv – und schafft damit, was andere Kunstformen häufig nur erahnen lassen: Sie »sourcen« das Fühlen aus. Das heißt auch, dass negative Emotionen wie Wut oder Aggression, aber auch der Wunsch nach Rausch und Transgression, in der Musik stellvertretend stattfinden.

Schon Schiller schreibt in seiner ›Ästhetischen Erziehung des Menschen‹, wie das Theater jene Stellvertreterfunktion einnehmen kann. So schwerfällig das Medium des Theaters aber dabei ist, so leicht fällt es der Musik, die großen Gefühle herzustellen – manchmal (meistens) so groß, dass man nach dem Konzert eigentlich nur noch nach Hause und ins Bett will. Vielleicht ist die Direktheit, die Unmittelbarkeit der Musik auch der Grund, warum sie ganz buchstäblich Biografien verändern kann – manche Menschen haben einfach ein »Calling«. »Talent ist Interesse«, schreibt Heiner Müller, und vermutlich ist es dieses besonders tiefe, fast fanatische Interesse, das uns Zuschauer:innen von den Musiker:innen auf der anderen Seite trennt. Manchmal wird diese Trennung besonders deutlich: Nämlich dann, wenn die lebenden Komponist:innen am Ende ihres Stückes auf die Bühne gerufen werden, den Raum durch die Tür (durch die wir selbst vorher gekommen sind) verlassen und durch die wie von Geisterhand geöffnete Tür zum Himmel »auf die andere Seite gelangen «. Manchmal verstehen sie selbst aber den Mechanismus nicht. Dann klettern sie über das kleine Metallgeländer, das die beiden Seiten voneinander trennt, schwingen sich elegant über die Reling – und verbeugen sich.