Eine Kolumne von Olga Hohmann

+1: Che bella voce

Olga Hohmann besucht seit neuestem Konzerte, am liebsten in Begleitung eines +1. Mit dem berühmten Bus M29 fährt sie in Abendgarderobe in die Philharmonie und beschäftigt sich eine Spielzeit lang aus der Zuschauer:innenperspektive mit den Eigenheiten des Orchesters sowie des Publikums selbst. Denn: Auch vor den Kulissen spielt sich vieles ab, was häufig ungesehen bleibt.

Es gibt eine Geschichte, die geht so: Eine Kompanie Soldaten kauert mitten in der Schlacht im Schützengraben, und ihr Kommandant befiehlt: »Zum Angriff!« Um den Schlachtenlärm zu übertönen, ruft er mit lauter und klarer Stimme, aber nichts passiert, niemand rührt sich. Der Kommandant ist verärgert und ruft lauter: »Zum Angriff!« Immer noch keine Bewegung. Und weil in guten Geschichten alles dreimal geschehen muss, bevor sich etwas tut, brüllt er nun noch einmal: »Zum Angriff!«, woraufhin sich eine dünne Stimme aus dem Graben erhebt und genießerisch sagt: »Che bella voce! Was für eine schöne Stimme!« Natürlich fragt man sich, was die politische Wirkkraft von Musik sein kann. Das heißt, wie kann sie eigentlich ganz konkret auf unser und das Leben anderer Menschen wirken. Wie kann sie mehr sein als etwas, das zur Unterhaltung gedacht ist – oder das im religiösen Kontext vorkommt? Und, kann sie das überhaupt? Mehr sein als etwas, das uns berührt oder beflügelt – oder spirituell ausfüllt?

Vielleicht ist die Geschichte, die ich bei dem Theoretiker Mladen Dolar gelesen habe, deshalb so eindringlich für mich, weil die Musik eine ganz konkrete Rolle einnimmt, weil sie buchstäblich eine Brücke baut zwischen zwei Lagern, die sich ursprünglich feindlich gesinnt gewesen waren. Und weil wir uns vielleicht wünschen, dass es diese Möglichkeiten auch in unserem Leben und Erleben gibt. Tatsächlich ist die Musik eine der wenigen Kunstformen, in die Menschen ganz unterschiedlicher sozialer und nationaler Herkunft Eintritt finden. Nicht zuletzt, weil Kunst, wie Arnold Schönberg schreibt »nicht von Können, sondern von Müssen kommt«. Weil der Grad an Berührung, den wir in der Musik erfahren – und der Wunsch, der manchmal daraus wächst, selbst zu musizieren – besonders hoch und besonders wenig vorhersehbar ist. Weil manche Kinder singen oder trommeln oder die Tasten des Klaviers drücken, bevor sie sprechen können. Weil Musik selbst eine Sprache ist – eine, die viele andere Sprachen beinhaltet. Und so sehen wir, wenn wir das DSO betrachten, mehr als nur eine Gruppe von Menschen, die miteinander Stücke aufführen, sondern Menschen, die sich entschieden haben, eine Sprache zu sprechen, die nur peripher mit Worten zu tun hat. Eine Sprache, die alle lernen können – und gleichzeitig fast niemand. Und natürlich würde man sich wünschen, dass das Publikum ähnlich divers, vielstimmig ist wie das Orchester selbst. Und manchmal ist es das auch. Trost beinhaltet die Einsicht, dass »den Menschen im Großen und Ganzen nicht zu helfen ist«, schreibt Georg Simmel. Und vielleicht ist die Musik deshalb so versöhnlich – weil wir uns in die Augen schauen müssen, um gemeinsam etwas zum Klingen zu bringen. Nicht »trotz« der Lage der Welt, sondern »gerade deshalb«.