Eine Kolumne von Olga Hohmann

+1: Déformation professionelle

Olga Hohmann besucht seit neuestem Konzerte, am liebsten in Begleitung eines +1. Mit dem berühmten Bus M29 fährt sie in Abendgarderobe in die Philharmonie und beschäftigt sich eine Spielzeit lang aus der Zuschauer:innenperspektive mit den Eigenheiten des Orchesters sowie des Publikums selbst. Denn: Auch vor den Kulissen spielt sich vieles ab, was häufig ungesehen bleibt.

Déformation professionelle ist eine durch den Beruf herbeigeführte Eigenschaft, die etwa auf die häufige Wiederholung einer bestimmten Tätigkeit zurückzuführen ist. Sie bezeichnet einen bestimmten Fokus, das heißt, eine Neigung, die fachliche Expertise auch über ihren Geltungsbereich hinaus anzuwenden. Beispiele für eine Déformation professionnelle sind Lehrende, die auch privat dozieren und korrigieren, Polizist:innen, die auch außer Dienst überall Kriminelle sehen, oder Musiker:innen, die nicht mehr mit Genuss Musik hören, weil sie nicht anders können, als sie fachlich zu analysieren. Auch tatsächliche Déformations professionelles sind zu verzeichnen, wie die ungleichmäßige Bräunung – und über längere Zeit hinweg auch Faltenbildung – bei Lastwagenfahrer:innen oder der so genannte Geiger:innenfleck, der, wenn man es nicht besser weiß, fast einem Knutschfleck gleicht. Karl Marx bringt das Beispiel von Fabrikarbeiter:innen, deren Körper ungleichmäßig verschleißt, weil sie, beispielsweise am Fließband, immer dieselbe Bewegung machen müssen. Ein Knutschfleck ist ein besseres Accessoire als der Schal, der ihn verdecken könnte. Auch für einen Besuch in der Philharmonie eignet er sich gut – das Gefühl leichten Voyeurismus auslösend bleibt er, über Jahrhunderte hinweg, ein echter Hingucker, immer »in fashion«. 

Fast alle Musiker:innen haben also eine solche, ihrem Fach oder Instrument spezifische, Déformation professionelle. Und nicht zuletzt die strenge Disziplin, die zum Beispiel Sänger:innen an den Tag legen müssen, kann man unter dieser Kategorie verbuchen. Manche Angewohnheiten sind grotesk: So dürfen etwa Sänger:innen nicht flüstern. Ich frage mich, welche Spezifika wohl für Blechbläser:innen gelten? Was dürfen sie mit ihren Lippen nicht tun? Und was trainieren sie im Alltag? Hat ihr Instrument Auswirkungen auf ihr Küssverhalten? Und gibt es ein Äquivalent zum so genannten Tennisarm? Wie schützen Harfenist:innen ihre Fingerspitzen? Und dirigieren die Dirigent:innen auch in der Küche ihre jeweiligen Partner:innen? Oder lassen sie, gerade weil sie beruflich die Verantwortung tragen, privat gern auch mal die anderen entscheiden? Denn: Die Déformation professionelle ist ja nicht nur auf den somatischen Teil unseres Charakters zurückzuführen, sie bezieht sich vor allem auch auf den Charakter. Und: Es gibt immer wieder Ausnahmen, speziell in der Musik. Natürlich sind Musiker:innen besonders kritisch, wenn es um das Spiel ihrer Kolleg:innen geht, aber es gibt auch stets die Möglichkeit zur Ausnahme. Als ich neulich mit einer befreundeten Pianistin zufällig dem Konzert einer kleinen lokalen Blaskapelle in einer Kirche in den Schweizer Bergen beiwohnte, deren Repertoire fast an Jodellaute erinnerte, waren wir beide, ob der Authentizität, Konzentration und Aufrichtigkeit, der Musizierenden, gleichermaßen zu Tränen gerührt.