Olga Hohmann besucht seit neuestem Konzerte, am liebsten in Begleitung eines +1. Mit dem berühmten Bus M29 fährt sie in Abendgarderobe in die Philharmonie und beschäftigt sich eine Spielzeit lang aus der Zuschauer:innenperspektive mit den Eigenheiten des Orchesters sowie des Publikums selbst. Denn: Auch vor den Kulissen spielt sich vieles ab, was häufig ungesehen bleibt.
Warum sind es immer die Liebsten – und vor allem die, die einen selbst am liebsten haben –, die es abbekommen, wenn man verzweifelt, ratlos oder aggressiv ist? Es scheint ein ungeschriebenes Gesetz zu sein, wie die Mills Brothers singen: »You always hurt the one you love, the one you shouldn’t hurt at all. You always break the sweetest rose and crush it till the petals fall. […] And if I broke your heart last night, it’s because I love you most of all.« Ein wunderschönes Lied, mit einer sehr zweifelhaften Aussage. Erst kürzlich wurde mir bewusst, wie unglaublich viele so genannte »Vortragsbezeichnungen« es in der klassischen Musik eigentlich gibt. Es geht nämlich weit über piano, forte, staccato und adagio hinaus, es gibt ebenfalls deskriptive, genrebeschreibende Begriffe wie eroico (heroisch), onomatopoetische Begriff wie mormorendo (murmelnd), heutzutage leicht humoristisch anmutende Begriffe wie dolcezza (sehr süß) oder doloroso (schmerzhaft), existenzielle Begriffe wie pedendo (sich verlierend) oder sogar morendo (sterbend) und auch menschlich-charakteristische Begriffe wie commodo (bequem) oder eben tatsächlich capriccioso (launenhaft).
Über die neue poetisch-narrative Vielfalt der Vortragsbezeichnungen wissend, saß ich also in der Philharmonie und betrachtete die Hinterköpfe der Menschen vor mir. Bei vielen dieser Menschen handelte es sich tatsächlich um Paare, und ich fragte mich spontan, welche Wirkung die jeweilige Musik auf die jeweilige Dynamik zwischen den Liebenden hätte. Ich erinnere mich zum Beispiel sehr lebhaft (allegro) daran, wie vergnügt und frischverliebt viele der schon älteren Paare die Philharmonie verlassen hatten, nachdem wir eine gute Stunde lang dem Duett aus Wagners ›Tristan und Isolde‹ zugehört hatten, existenziell und dennoch höchst nachvollziehbar, unterstrichen durch die fast erotische Begleitung des Orchesters. Händchen haltend und vor sich hin summend spazierten die Zuschauer:innen nach Hause. Bei dem Klaviersolo von Benjamin Grosvenor, der Busoni spielte wie ein im besten Sinne Besessener (und dennoch nachdenklicher Intellektueller), richtete sich die gesamte Libido des Auditoriums auf die eine Person, den Virtuosen. Versunken in ein halb-schwelgendes, halb-sprachloses, beeindruckendes Sinnieren ließ jede:r Zuhörer:in den Vortrag für sich allein nachwirken. Nun bereite ich mich innerlich schon auf mein nächstes Konzert vor: Sibelius, Britten und Andrea Tarrodi. Eine Symphonie, die so eingängig ist und süchtig macht, dass sie in verschiedenen Popsongs zitiert wird, ein Liederzyklus nach Arthur Rimbaud und eine
Komposition, die uns in die Welt der Vögel entführt. Ich bin gespannt, was mir die Hinterköpfe der Menschen über ihre Rezeption des Abends erzählen werden. Ich erwarte eine besonnene, vielstimmig-vielgestaltige Reise. Anregend zum Gespräch – verbal oder gestisch. Mal sehen, ob ich Recht behalte.