Olga Hohmann besucht seit neuestem Konzerte, am liebsten in Begleitung eines +1. Mit dem berühmten Bus M29 fährt sie in Abendgarderobe in die Philharmonie und beschäftigt sich eine Spielzeit lang aus der Zuschauer:innenperspektive mit den Eigenheiten des Orchesters sowie des Publikums selbst. Denn: Auch vor den Kulissen spielt sich vieles ab, was häufig ungesehen bleibt.
Wie gerne wäre ich mal backstage in der Philharmonie! Eine Kolumne habe ich schon der magischen Tür gewidmet, die die Künstler:innen von den profanen Menschen (wie mir selbst) trennt, die sie von Zauberhand auf- und abtreten lässt. Nun aber möchte ich schauen, was sich hinter der Tür verbirgt: Da, wo die Musiker:innen ihre Alltagsgarderobe ab- und die festliche Kleidung anlegen. Wo sie vielleicht ein Glas Sekt nach dem erfolgreichen Konzert trinken – oder davor? Ob es, wie in der Oper, eine Stimme aus dem Off gibt, die die Künstler:innen zum Auftritt ruft? Oder einen Gong? Ob die Künstler:innen Rituale haben – Gebete, einen Talisman? Vermutlich folgen alle Menschen, die öffentliche Auftritte haben, einem gewissen Regelsystem, das ihnen das Gefühl gibt, dass sie die Kontrolle über die Situation haben – auch wenn klar ist, dass sie sie gleich abgeben. Dreimal auf Holz klopfen ist eine verbreitete spirituelle Anrufung.
Es gibt Geschichten von Stars, die ihre Auftritte absagen, weil ihr Glücksbringer verschwunden ist. Nicht zuletzt dem Instrument selbst wird eine metaphysische Kraft zugesprochen: die »eine« Violine, die »eine« E-Gitarre, das einzige Instrument, auf dem sich das Genie der Spielenden entfaltet. Ich erinnere mich daran, wie die »Stimme aus dem Off« (die Inspizientin) feine Unterschiede in der Art machte, wie sie die Künstler.innen zum Auftritt rief. Eine schon betagte Diva wurde mit einer gewissen Sanftheit auf die Bühne gerufen, während die Ansagen, die den Chor oder das Orchester betrafen, einem Pragmatismus unterlagen. Es gab dabei natürlich verschiedene Aspekte, die in die subtile Behandlung einflossen: die Generation und der Grad an Berühmtheit waren nur einige davon. »Toi toi toi« sagt man sich im Theater vor dem Auftritt, es ist streng verboten, auf den Zauberspruch mit »Danke« zu antworten – so wie auch das Pfeifen verboten ist. Was aber ist in der Berliner Philharmonie verboten? Und was ist erlaubt? Sagt man, wie in Frankreich, »Merde«? Oder, wie in Italien, »In bocca al lupo« – »ins Maul des Wolfes«? Gibt es, da es sich um ein gemeinsames Event handelt, ein Gruppenritual? Spuckt man sich über die linke Schulter, hält man sich an den Händen? Oder gibt es, wie man es von Rockbands hört, einen gemeinsamen Talisman, vielleicht exzentrischer Natur? Es gibt eine Band, der man nachsagt, sie hätten immer eine tote Krähe in einem Glas dabei. Andere tranken literweise Energy Drinks, wieder andere versuchten, die Stimmung des Publikums zu erfühlen, die atmosphärische »Tonart« sozusagen, um dazu entsprechend den Einstiegssong auszusuchen. Letzteres ist bei Klassischen Konzerten natürlich keine Option – und dennoch: Es gibt immer einen »Feedback-Loop«, eine Kommunikation zwischen Orchester und dem Zuschauerraum, der es auf allen Seiten umgibt. Aber es ist eine Dreifaltigkeit: auch die höheren Mächte, die über dem Konzertsaal schweben, haben immer buchstäblich ihre Finger mit im Spiel.