Olga Hohmann besucht seit neuestem Konzerte, am liebsten in Begleitung eines +1. Mit dem berühmten Bus M29 fährt sie in Abendgarderobe in die Philharmonie und beschäftigt sich eine Spielzeit lang aus der Zuschauer:innenperspektive mit den Eigenheiten des Orchesters sowie des Publikums selbst. Denn: Auch vor den Kulissen spielt sich vieles ab, was häufig ungesehen bleibt.
»Ist das ein Spiegel?«, fragt mein Besuch aus New York verstört, als er den Saal betritt und die uns gegenübersitzende Menschenmenge betrachtet. Und mir fällt ein weiteres Mal auf, wie radikal Hans Scharouns Entscheidung war, das Publikum dem Anblick des Publikums selbst auszusetzen. Das ist ja das Besondere daran, von einem +1 begleitet zu werden – man sieht die Dinge, die bereits selbstverständlich geworden sind, plötzlich umso klarer, immer wieder aufs Neue überrascht vom Vertrauten. Und so sehen wir das ganze Konzert wie in einem Spiegel, sehen auch uns selbst regelrecht gespiegelt, vor allem in der Zugabe des Starpianisten Kirill Gerstein. Es ist immer ein besonderer Moment, wenn die Solist:innen kurz die Stimme erheben, auf Deutsch sogar, und ich bin davon so abgelenkt, dass ich nicht verstehe, ob der Titel des Stückes ›Liebeslied‹ oder ›Liebesleid‹ ist. Und irgendwie ist es, wie mein New Yorker Freund gleich beschreibt, auch irrelevant – in jeder Liebe steckt zumindest das Potenzial für ein bisschen Leid. Mein +1 beobachtet die Finger des Pianisten und denkt an seine Zeit als widerwilliger Klavierschüler zurück, der irgendwann in den Sommerferien einfach das Handtuch warf und seitdem nie wieder eine Klaviertaste nach unten drückte. Dann kommentiert er das Liebeslied und sagt: »So ist doch die Liebe, hoch und runter und wieder hoch und wieder runter – nicht mehr und nicht weniger.« Und ich denke an den Begriff der Virtuosität und erneut an das Zitat von Arnold Schönberg: »Kunst kommt nicht von können, sondern von müssen.«
Schönberg verneinte Kunst, die für alle zugänglich ist. Er hielt sie für opportunistisch. Und auch die Virtuosität ist, so lerne ich, etwas, das sich dadurch auszeichnet »in sich selbst begründet zu sein«. Auf Herbert Marcuses Grabstein steht: »Weitermachen!« Es ist ein Widerspruch in sich, mit einem Ausrufezeichen am Ende des Lebens, ein verzweifelter, aber hoffnungsvoller Imperativ. Die Zugaben der Solist:innen sind immer besonders berührend, stelle ich, im Spiegel der Musik, fest. Liegt es daran, dass sich das ganze Leben ein bisschen wie eine einzige Zugabe anfühlt? Oder ist es der besondere Moment kurz vor der Zugabe, bei dem die (meistens internationalen) Solist:innen plötzlich nicht nur in der Sprache der Musik sprechen, sondern, auf Deutsch, ihre selbst gewählten Stücke anmoderieren? Wie gebannt sitzt das ganze Orchester, selbst überrascht über die Stückwahl, andächtig zuhörend auf ihren Plätzen, während Kirill Gerstein, der vorher schon fantastisch Rachmaninoff performt hatte, plötzlich ganz sanft die Tasten berührt – »rauf und runter, wie die Liebe selbst«. Und in aller sprachlosen Begeisterung über das anrührende Stück entweicht einem der lauschenden Musiker, kurz vor dem letzten Ton, ein überraschtes, genießerisches: »Ah!«.