Olga Hohmann besucht seit neuestem Konzerte, am liebsten in Begleitung eines +1. Mit dem berühmten Bus M29 fährt sie in Abendgarderobe in die Philharmonie und beschäftigt sich eine Spielzeit lang aus der Zuschauer:innenperspektive mit den Eigenheiten des Orchesters sowie des Publikums selbst. Denn: Auch vor den Kulissen spielt sich vieles ab, was häufig ungesehen bleibt.
Folgende Szene habe ich nicht gesehen, aber von ihr gehört: Ein weltbekannter Pianist und Dirigent sitzt am Flügel, das Orchester spielt dazu. Er leitet den Klangkörper, während er sein Solo spielt und blättert dabei noch im Notenheft – es ist die hohe Kunst des Multitasking, die er betreibt. Plötzlich fällt sein Notenheft auf den Boden, er hatte wohl zu schwungvoll geblättert. Im Flug fängt er die Ausgabe mit der linken Hand, hört nur eine Sekunde lang auf zu spielen und dirigiert mit der rechten Hand weiter. Er braucht ebenfalls nur den Bruchteil einer Sekunde, um die richtige Seite im Notenheft zu finden, schlägt sie mit links auf und ist buchstäblich »back on track«. Dieser hohe Grad an Aufmerksamkeit ist zwar in diesem Fall besonders beeindruckend – aber in gewisser Weise auch exemplarisch für das Musikmachen überhaupt.
Man studiert, wie im Falle des DSO, anspruchsvolle Stücke und Partien ein, man setzt sie zusammen, manchmal lernt man sie auswendig und manchmal nicht. Wichtig ist aber, dass man all das, was man gelernt hat, ob mit oder ohne Notation, nicht nur reproduziert, sondern im Moment des Spielens sozusagen noch einmal neu erfährt. Im Falle eines Orchesters funktioniert das nur im Zusammenspiel mit den anderen Musiker:innen. Man muss der Unmittelbarkeit im Moment Raum geben, und dafür muss man seine Partitur gut studiert und geübt haben: Freiheit erfordert in der Musik größte Vertrautheit mit dem Regelsystem, auf das man sich bezieht und von dem man sich entfernt. Loslassen geht nur auf Grundlage der Sicherheit. Eine Notation ist außerdem vielfach interpretierbar und mutet mitunter fast lyrisch an. Manchmal steht da: »sehr zart« oder »galoppierend«. Das hat sowohl etwas Bildhaftes als auch etwas Dynamisches. In dem Kloster Sainte Marie de la Tourette, das der Architekt Le Corbusier 1960 auf einem Hügel bei Lyon errichtete, baute er in die Sichtbetonarchitektur eine Komposition des griechischen Avantgardisten Iannis Xenakis ein: als Stehlen vor einem Fenster. Die Abstände zwischen den Betonpfeilern sind eine Übersetzung der Musik in den Raum – und sofort kann man das Schwingen im Innenhof spüren, das sie alle verbindet und das über die reine Architekturerfahrung hinausgeht. Neulich erlebte ich etwas ähnlich Verbindendes, nämlich die Wirkung der Hausmusik, wie sie schon bei Barockmusiker:innen wie Johann Sebastian Bach praktiziert wurde. Am Osterwochenende traf sich eine 10-köpfige Familie (ich einer der Köpfe) und fing aus dem Stegreif an, gemeinsam zu singen. Erst einen Kanon, dann verschiedene Stücke, die durch Gitarre, Violine und Klavier begleitet wurden. Ich habe selten etwas so spontan Gemeinschaftliches erlebt – ganz ohne Sprache.