Olga Hohmann besucht seit neuestem Konzerte, am liebsten in Begleitung eines +1. Mit dem berühmten Bus M29 fährt sie in Abendgarderobe in die Philharmonie und beschäftigt sich eine Spielzeit lang aus der Zuschauer:innenperspektive mit den Eigenheiten des Orchesters sowie des Publikums selbst. Denn: Auch vor den Kulissen spielt sich vieles ab, was häufig ungesehen bleibt.
Ich lerne: Virtuosität ist etwas, das sich in sich selbst begründet. Etwas, das vollkommen ist als das, was es ist. Das nicht »mehr« sein will – und dabei sehr viel ist und wird. Es gilt als meisterhafte Beherrschung eines künstlerischen Handwerks, aber es ist auch immer mehr als diese Handwerklichkeit. Eine Selbstvergessenheit, die ein liebevolles Moment in den Blick der Zuschauenden legt, als könnte man tatsächlich nicht anders, als sich immer auch ein kleines bisschen zu verlieben, in die jeweilige Person dort auf der Bühne. Tatsächlich scheint die Virtuosität in fast keiner Kunstform so verbreitet zu sein wie in der klassischen Musik. Vielleicht ist sie sogar eine Voraussetzung dafür, dass die (virtuosen) Interpret:innen in den heiligen Hallen auftreten dürfen. Und immer wieder sind es die klitzekleinen Ausbrüche, die Glitches, die Programmierungsfehler, die auf die Menschlichkeit, die Lücke im fast maschinell-perfektionistisch anmutenden Handwerk hinweisen, die diese Möglichkeit zur Empathie herstellte, die uns Zuschauer:innen für die Dauer des Konzerts verliebt macht.
Im jüngsten Fall des Solopianisten ist es die Sprache selbst, die diesen Ausbruch dar- und herstellt: Ganz am Ende seiner 90-minütigen Darbietung macht er, der vorher in einem leidenschaftlichen musikalischen Dialog mit dem Orchester war, plötzlich den Mund auf und sagt etwas. Und erst da fällt einem auf, dass er vorher ausschließlich mit seinen Fingern kommuniziert hat. So ausdifferenziert und lebendig war seine musikalische Sprache, dass man wirklich glaubt, sich mit ihm unterhalten, ihn richtiggehend kennengelernt zu haben. Und dann öffnet er den Mund und es offenbart sich noch einmal etwas ganz anderes – nämlich ein fast schüchtern wirkender Interpret, dessen Sprache eben wirklich die Musik ist. Mit zarter, aber bestimmter Stimme kündigt er Schumanns ›Abendlied‹ an, und ich brauche einen Moment bis ich realisiere, dass der Brite in meinem Alter gerade meine Muttersprache gesprochen hat. So »otherworldly«, erhaben kommt er mir vor – so profan der Begriff des »Abendlieds«, das er dann auch, ähnlich bestimmt-unbestimmt auf den Tasten realisiert. Und mein +1 merkt an, dass Musik fast wie Architektur sein kann: Der Interpret entwirft, baut ein Gebäude aus Luft und Klang, das sich über uns allen erhebt, das einen Platz findet in und über dem Scharoun-Gebäude. Jenes ist vielleicht deshalb so genial, weil es diesen anderen, musikalischen Räumen erlaubt, sich in ihm auszubreiten, weil es eher Platz schafft, statt Platz einzunehmen. Das Orchester baut gemeinsam an etwas, das manchmal ganz nah an uns Zuhörende herankommt und manchmal, metaphysisch, direkt durch die Decke der Philharmonie in den Himmel wächst. Sie tun es gemeinsam, wie in einem gut organisierten, aber lebendigen, sehr spontanen und sinnlichen Ameisenhaufen. Und auch das ist eine Virtuosität, denn sie tun es in erster Linie miteinander und füreinander.