Eine Kolumne von Olga hohmann

+1: Die Gleichzeitigkeit der Jahrhunderte

Olga Hohmann besucht seit neuestem Konzerte, am liebsten in Begleitung eines +1. Mit dem berühmten Bus M29 fährt sie in Abendgarderobe in die Philharmonie und beschäftigt sich eine Spielzeit lang aus der Zuschauer:innenperspektive mit den Eigenheiten des Orchesters sowie des Publikums selbst. Denn: Auch vor den Kulissen spielt sich vieles ab, was häufig ungesehen bleibt.

Es regnete in Strömen. Klitschnass erreichte ich die Philharmonie – zum Glück hatte ich noch ein bisschen Zeit zum Trocknen. Ich spazierte durchs Foyer und zog eine lange Tropfspur hinter mir her. Weil ich danach noch zu einem Geburtstag eingeladen war und mal wieder kein passendes Geschenk gefunden hatte, betrat ich erstmalig den Geschenkartikelladen im Foyer, dem ich bisher keine Beachtung geschenkt hatte. Ich war zur Abwechslung mal zu früh und nicht zu spät, deshalb hatte ich dem Balalaika-Spieler vor dem Eingang zwei Euro gegeben und ihm bei einer Käsebrezel (ebenfalls meine erste) genau zugehört. Er war tatsächlich ziemlich gut. Im Geschenkartikel laden saß ein junger Mann an der Kasse und schlief fast, es wirkte so, als wäre das Geschäft seit Jahrzehnten nicht mehr betreten worden. Hauptsächlich konnte man schöne Aufzeichnungen von bekannten und weniger bekannten Werken kaufen – leider alle im Schallplatten- oder, noch nutzloser für das Geburtstagskind, im CD-Format. Es war das erste Mal, dass mir die Philharmonie, ähnlich wie die Scharoun’sche Staatsbibliothek gegenüber, wirklich wie ein Relikt aus der Vergangenheit erschien. Es gefiel mir, aber ich konnte die Schläfrigkeit des aus der Zeit gefallenen Verkäufers nachvollziehen. Ich wurde auch gleich ganz schläfrig, suchte aber weiter nach einem passenden Geschenk. Das einzige, was mir als Mitbringsel möglich erschien, war ein schwarzer Regenschirm – vielleicht zog ich ihn deshalb in Erwägung, weil es draußen so stark regnete. Ich entschied mich dagegen, denn ich hätte ihn vermutlich benutzen müssen, und ein tropfnasser Regenschirm erschien mir als Geschenk irgendwie unwürdig. Außerdem kostete er 39 Euro, was mir extrem unverhältnismäßig erschien, und er trug außerdem nicht, wie ich gehofft hatte, das Logo des DSO. Dann war der erste Gong zu hören.

Etwas geknickt verließ ich den ernüchternden Geschenkartikelladen und ging ins Konzert. Und plötzlich, im Block A sitzend, ergriff mich wieder die Gegenwart: Das Gebäude hatte zwar anachronistische Züge und die Musik entsprang teilweise einem historischen Kanon, das lebendige Spiel der Musiker:innen war es aber ganz und gar nicht. Im Gegenteil: Da vorne wurde gestrichen, gestreichelt, gehämmert, geblasen, getrötet, geatmet und gesummt, dass es eher an einen Ameisenhaufen erinnerte, an Wetterphänomene oder an eine riesige, menschliche Maschine, als an etwas, das aus der Zeit gefallen war. »Welcome to reality!«, dachte ich und genoss es, mal mit geöffneten und mal mit geschlossenen Augen die Gleichzeitigkeit so vieler Jahrhunderte sinnlich zu erfahren.