Olga Hohmann besucht seit neuestem Konzerte, am liebsten in Begleitung eines +1. Mit dem berühmten Bus M29 fährt sie in Abendgarderobe in die Philharmonie und beschäftigt sich eine Spielzeit lang aus der Zuschauer:innenperspektive mit den Eigenheiten des Orchesters sowie des Publikums selbst. Denn: Auch vor den Kulissen spielt sich vieles ab, was häufig ungesehen bleibt.
Heute betrat ich schon mit dem ersten Gong den Konzertsaal, ungewöhnlich, denn normalerweise war ich immer im letzten Moment noch zu meinem Platz geeilt. An diesem Abend hatte ich mich im Vorhinein wenig auf das Programm vorbereitet, und so galt mein Interesse zunächst dem Orchester selbst. Ich war zum ersten Mal früh dran und hatte also die Muße, den Musiker:innen dabei zuzusehen, wie sie ihre vertrauten Plätze einnahmen, noch ein paar Takte miteinander sprachen, sich gegenseitig freundlich zulächelten, wie zur Begrüßung (so schien es manchmal), und dann anfingen, ihre Instrumente zu stimmen – das heißt: sich aufeinander einzustimmen. Ich hatte gelernt, dass das DSO (damals noch RIAS) kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs von den USA im Zuge ihrer Reeducation-Politik gegründet worden war und von Anfang an programmatisch für Vielstimmigkeit stand.
Mir fiel auf, dass sowohl Musiker:innen als auch die Instrumente selbst sehr divers waren – sie kamen, wenn auch einen hauptsächlich westlichen Musikkanon repräsentierend, aus ganz unterschiedlichen Teilen der Welt. Manche waren sehr viel jünger als ich, andere viel älter, und im Rahmen der Möglichkeiten (schwarze Abendgarderobe) drückten sie sich auch modisch ganz unterschiedlich aus. Auch die Funktionsweisen und Notation der jeweiligen Instrumente waren ganz unterschiedlich. Fast kam es einem vor, als hätten sie unterschiedliche Persönlichkeiten. Manche traten, ebenso wie ihre Musiker:innen, in Paaren oder Trios auf, sie waren dunkel, hell, glänzend oder matt, schlank oder stabil, groß oder zierlich, aufdringlich oder drahtig, manche waren einzelgängerisch. Immer aber waren sie mindestens zu zweit. Manche schienen einander wohl gesonnen, andere wirkten, als wären sie in einer langen gewachsenen, inhaltlichen Diskussion verstrickt. Die ganze polyphone Kakophonie der Instrumente und ihrer Spieler:innen kam mir plötzlich wie symbolisch für die Geschichte des Orchesters vor. Ich dachte an den US-amerikanischen Theoretiker Fred Moten, der das Stimmen der Instrumente mit dem Beginn einer Schulstunde vergleicht: Die Schüler:innen besprechen
sich, auf Augenhöhe miteinander, sie tuscheln über das vergangene Wochenende, die (nicht gemachten) Hausaufgaben, sie tauschen Gossip aus und streiten in Teenager-Manier über schulspezifische Tagespolitik. Irgendwann kommt die Lehrkraft in den Raum und unterbricht, mit ihrer durch die Rolle selbst gegebenen Autorität, das Murmeln. Fred Moten beschreibt diesen Akt als fast brutal: Das Murmeln sollte sanft in die Unterrichtsstunde übergehen, schreibt er. So kommt es mir hier vor. Der Dirigent betritt den Raum und, ganz entspannt, beginnt das Konzert – das schon längst begonnen hat. Anfang und Ende, im klassischen Sinne, gibt es nicht, denn summend verlassen die Gäste den Konzertsaal und nehmen ein Stück Musik mit nach Hause