Olga Hohmann besucht seit neuestem Konzerte, am liebsten in Begleitung eines +1. Mit dem berühmten Bus M29 fährt sie in Abendgarderobe in die Philharmonie und beschäftigt sich eine Spielzeit lang aus der Zuschauer:innenperspektive mit den Eigenheiten des Orchesters sowie des Publikums selbst. Denn: Auch vor den Kulissen spielt sich vieles ab, was häufig ungesehen bleibt.
Zuerst, und eine ganze Weile lang, wusste man nicht, woher die Stimmen kamen. Man wusste nicht, wie viele es waren, waren es Solistinnen oder ein ganzer Chor? Konzertbesucher:innen hatten sich auf den Stufen niedergelassen, auf denen sonst der Chor Platz nahm, so gut verkauft war das Konzert, dass auch diese (exponierten) Plätze, direkt hinter dem Orchester, zur Verfügung gestellt wurden. Zunächst fragte ich mich, ob es die bunt gekleidete Masse dort vorne sein könnte, die den Klang erzeugt. Aber als er dann, zaghaft und klar, plötzlich zu hören war, legte der gesamte Saal den Kopf in den Nacken und hielt Ausschau nach der Herkunft der Stimmen. Weil sie so schlecht zu verorten waren, kam es mir einen Moment lang so vor, als wären sie tatsächlich einer himmlischen Dimension entsprungen – direkt von oben gesandt. Es handelte sich um eine Komposition von Hildegard von Bingen, ein gregorianischer Gesang, a capella, geschrieben eigentlich nicht für einen Konzertsaal, wie diesen, sondern für mittelalterliche Klosterarchitektur. Die fünf Frauenstimmen, wie ich nach und nach erkannte, sangen mal unisono, als wären sie nur eine einzige Stimme (von oben), mal entfernten sie sich, fast unmerklich, voneinander. Die Melodie schien manchmal fast unharmonisch, gleichzeitig beruhigend wie entrückt, dabei radikal bescheiden. Sie war sowohl in unserer Harmonielehre und christlichen Kultur verankert, wirkte dabei aber »otherworldy«. Ich dachte an zwei Freundinnen, Künstlerinnen, die neulich zu mir sagten: »Schönheit ist das Zentrum aller unserer Arbeiten, aber das muss ein Geheimnis bleiben.«
Dann dachte ich an die Definition von Melancholie als »nostalgische Sehnsucht nach etwas, das nie da war«. Sehnsuchts- und geheimnisvoll kamen mir also auch die körperlosen Stimmen von oben vor, an diesem Sonntagabend – und begleiten mich, als fast geisterhafte (oder engelsgleiche?) Erscheinung seitdem. Aber auch die fast neunzigminütige, bombastische Mahler-Symphonie aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert, die diesem geerdeten Windhauch einer Komposition einer der ersten weiblichen Komponistinnen und »Universalgenies« folgte, wies plötzlich Ähnlichkeiten auf – zum Beispiel als plötzlich der Klang des Glockenspieles aus dem »Nirgendwo« erklang. Musik ist für mich, in ihrer Qualität, Handwerk, Strategie, Historizität und Gefühl miteinander zu verbinden – beziehungsweise das eine mit dem anderen zu evozieren, sowohl im Bereich des Allzu-Weltlichen als auch immer im Bereich des Spirituellen, Magischen angesiedelt. Schönheit kommt immer aus dem (hergestellten, geplanten) »Nirgendwo«. Aber das muss ein Geheimnis bleiben.