Eine Kolumne von Olga Hohmann

+1: Die verlorene Armbanduhr

Olga Hohmann besucht seit neuestem Konzerte, am liebsten in Begleitung eines +1. Mit dem berühmten Bus M29 fährt sie in Abendgarderobe in die Philharmonie und beschäftigt sich eine Spielzeit lang aus der Zuschauer:innenperspektive mit den Eigenheiten des Orchesters sowie des Publikums selbst. Denn: Auch vor den Kulissen spielt sich vieles ab, was häufig ungesehen bleibt.

Wie auch immer es geschehen ist, sie war weg – nicht im Badezimmer, nicht in der Handtasche, nicht in der Manteltasche, nicht auf dem Küchenregal oder dem Schreibtisch: Meine geliebte Casio Baby-G Watch, ein Relikt aus den frühen 2000ern, war einfach verschwunden und ich damit, buchstäblich, aus der Zeit gefallen. Ein paar Tage verbrachte ich damit, nach ihr zu fahnden – ging zurück in das Restaurant und in die Bar, in denen ich am Vorabend ihres Verschwindens gewesen war, richtete den Blick im Hausflur und auf der Straße besonders intensiv auf Boden, Treppenabsätze und Fensterbretter. Dann gab ich es auf – und versuchte stattdessen das Unmögliche: Das Objekt mit, wie man sagt, »emotionalem Wert« zu ersetzen. Unmöglich, natürlich, denn die »Special Beach Edition« (pastellblau und rosa) ist seit Jahren vergriffen, und so saß ich an einem Samstagabend plötzlich zeitlos in der Philharmonie. Als die ersten Takte gespielt wurden, fiel es mir noch wahnsinnig schwer, mich hinzugeben. Ich war aktiv mit dem Nichtwissen beschäftigt: Wie lange würde das Konzert dauern, an welcher Stelle des Musikstücks waren wir gerade? Als latente Kontrollfetischistin fiel es mir schwer, die Verantwortung für das Vergehen der Zeit abzugeben – ohnehin ein Imago. Ich lehnte mich zurück und lauschte dem ersten Satz der Siebten Symphonie von Mahler: Allegro risoluto ma non troppo stand im Programmheft. »Heiter, entschlossen, aber nicht zu sehr« kann man das übersetzen – gemäßigte Heiterkeit also. Ich fing an, mich, anstatt an den vergehenden Minuten, langsam an den Tempobezeichnungen zu orientieren, das Hörerlebnis an der Art, wie die Begriffe die Musik beschrieben, zu orientieren. Jeder der fünf Sätze hatte tatsächlich einen ganz unterschiedlichen Charakter.

Und nun, da ich keine andere Wahl hatte, als mich ihnen ganz hinzugeben, sprangen sie mich geradezu an: Scherzo, das auch als »schattenhaft« übersetzt wird, eingerahmt von den zwei ›Nachtmusiken‹ Allegro moderato und Andante amoroso, kamen mir tatsächlich plötzlich unheimlich vor. Groteske Gestalten begegneten sich vor meinem inneren Auge. Stück für Stück vergaß ich, wie viel Uhr es war und wie viel Uhr es sein könnte. Ich war ausschließlich mit den Schattengestalten in meiner Fantasie beschäftigt. Und spätestens die friedlichen, intimen Klänge der Holzbläser zum Ende des Andante amoroso verzauberten mich so sehr, dass ich Zeit und Raum hinter mir ließ – denn: Zeit ist ja ohnehin etwas relatives. Am Ende des Finales gab es Standing Ovations, und auch mich riss es von meinem Stuhl. Ich schlenderte langsam nach Hause und entschied, bis zum Ende des Tages nicht mehr auf die Uhr zu schauen: Vielleicht war es schon Mitternacht als ich einschlief, vielleicht auch nicht.