1.7.1953

Die Krise als Chance

›Das Orchester, das nicht sterben will‹, Artikel in der Zeitschrift ›Radio-Revue‹ vom Januar 20.–26.1.1957. Foto: Archiv DSO
›Das Orchester, das nicht sterben will‹, Artikel in der Zeitschrift ›Radio-Revue‹ vom Januar 20.–26.1.1957. Foto: Archiv DSO

Kulturförderung gehört hierzulande, auch wenn das immer wieder infrage gestellt wird, zur ureigensten Aufgabe von Politik und Gemeinwesen. In den USA ist das traditionell anders. Umso erstaunlicher, dass der amerikanische Steuerzahler mit dem RIAS in Berlin über mehrere Jahre hinweg ein ganzes Orchester finanziert. Als das schließlich doch zum Politikum wird, geht es plötzlich ganz schnell: Um keinen Präzedenzfall zu schaffen, fordert man die Entlassung aller Musiker*innen – und stürzt das Orchester in eine existenzielle Krise, die nur den Anfang eines jahrzehntelangen Ringens um finanzielle Stabilität markieren sollte.

Zugleich ist sie aber auch der Beginn einer beachtlichen Erfolgsgeschichte, die im Stillen die künstlerische begleitet und den Charakter des Orchesters entscheidend prägt: eine Geschichte von Überlebenswillen, Unabhängigkeit und enormer Flexibilität. Im Juli 1953 nehmen die Musiker*innen das Heft selbst in die Hand, gründen eine GbR, generieren durch Plattenverträge regelmäßige Einnahmen. Der RIAS und ab 1956 auch der Sender Freies Berlin (SFB) werden als Produktionspartner gewonnen, der Bund und Berlin springen helfend bei. Man heißt nun Radio-Symphonie-Orchester Berlin und ist eine unabhängige GmbH, doch immer wieder muss um den Erhalt gekämpft, in Bonn vorgesprochen, nach Verbündeten gesucht werden.

Nach der politischen Wende bringt die Integration dreier weiterer Ensembles unter dem Dach der nunmehr Rundfunk-Orchester und -Chöre (ROC) genannten Gesellschaft 1993 zwar institutionelle Stabilität, birgt aber neue Herausforderungen. 2009 gelingt es dem Orchester mit der überwältigenden Unterstützung von Publikum und Öffentlichkeit, das Vorhaben einer Fusion des DSO mit dem Kollegenorchester in der ROC abzuschmettern. Und auch die Pandemie, die ab Frühjahr 2020 das Konzertleben vor Publikum verunmöglicht, lehrt das DSO neue Fähigkeiten: Statt Jahre im Voraus zu planen, gilt nun Spontaneität als Gebot der Stunde. Binnen Tagen entstehen Programme und Formate, so innovativ und radikal, wie man sie langfristig nie konzipiert hätte, ob live für das Radio, als Podcast fürs Internet oder als Videoproduktion mit einer Bildsprache, die, stets das Neue suchend, das nur abgefilmte Konzert ganz alt aussehen lässt. Die Krise als Chance – für das DSO ist das seit 75 Jahren mehr als eine Plattitüde. Der Geist, der daraus erwuchs, ist bis heute lebendig.