Elim Chan

Du musst Dirigentin werden!

Porträt Elim Chan. Foto: Rahi Rezvani
Die Dirigentin Elim Chan. Foto: Rahi Rezvani

Elim Chan gilt als eine der vielversprechendsten Dirigentinnen der jüngeren Generation. Sie ist in Hongkong aufgewachsen, studierte in den USA und gewann 2014 als erste Frau den Donatella Flick Conducting Competition. Sie ist Chefdirigentin des Antwerp Symphony Orchestra und Principal Guest Conductor des Royal Scottish National Orchestra. Beim DSO ist sie bereits zweimal »furios« (Tagesspiegel) eingesprungen. Am 11. Dezember steht sie nun erneut am Pult des Orchesters. Im Interview spricht sie über ihren Karriereweg, ihre Liebe zur russischen Musik und den Kindheitstraum, Detektivin zu werden.

Elim Chan, 2019 und 2021 sind Sie jeweils kurzfristig für Santtu-Matias Rouvali und Sir Roger Norrington beim DSO eingesprungen. Für Dirigent:innen am Anfang ihrer Karriere ist das Einspringen ja nicht das Schlechteste: Man kann sich einen Namen machen, Sachen ausprobieren, Risiken eingehen…

Unbedingt! Beim ersten Mal saß ich gerade mit meiner Schwägerin und einem Eistee in Maastricht in der Sonne und hatte eine sehr anstrengende Zeit mit vielen Konzerten hinter mir. Es war kurz vor Ostern, ich wollte mich ausruhen, endlich wieder Zeit mit meiner Familie verbringen und habe spontan abgesagt. Fünf Minuten später rief mich der Orchesterdirektor des DSO selbst an und überzeugte mich, doch zu kommen. Ich habe dann unseren Urlaub nach Berlin verlegt, meine ganze Familie kam ins Konzert und ich stand zum ersten Mal auf der Bühne der Philharmonie. Diese Planänderung habe ich nicht bereut! Ich habe dann aber ein anderes Programm als das von Santtu dirigiert, nur das große Schlagzeugkonzert von James McMillan [›Veni veni Emanuel‹] beibehalten. Im vergangenen Jahr habe ich mich sehr gefreut, erneut auszuhelfen und das Orchester noch besser kennenzulernen. Auch Sir Roger Norrington hatte ein sehr persönliches Programm mit einer Martinů-Symphonie geplant, auch hier haben wir es geändert, und der Pianist Víkingur Ólafsson kam dazu. Im Dezember komme ich nun aber nicht mehr als Vertretung!

Wie geht man damit um, zum ersten Mal vor einem Orchester zu stehen, in dem man niemanden kennt und das einen erwartungsvoll anblickt?

Bei einer ersten Probe habe ich immer Schmetterlinge im Bauch, auch wenn ich ein Orchester schon kenne. Aber das Befreiende ist: innerhalb kürzester Zeit lernen wir uns durch die Musik kennen und finden damit schnell eine Verbindung. Als Dirigentin muss ich mir gleich am Anfang ein Bild vom Orchester machen. Und dann geht es darum: »How do we tango«? Denn zum Tango-Tanzen braucht es bekanntlich immer zwei. Diesen Prozess finde ich faszinierend. Aber wenn die Musik im Mittelpunkt steht, hilft das allen, zum Punkt zu kommen.

»Ich hatte schon immer den Traum, Detektivin zu werden […], ich wollte mich mit Forensik und Psychologie beschäftigen, und das habe ich zunächst auch studiert. Aber das Herz hat schließlich gegen das Hirn gewonnen. In der Musik fühlte ich mich immer am freiesten.«

Elim Chan

Was hat Sie dazu inspiriert, eine musikalische Karriere einzuschlagen, Dirigentin zu werden?

Ich habe meine Kindheit in Hongkong verbracht. Meine Eltern waren nicht musikalisch, haben mir aber alles ermöglicht: Ich durfte im Kinderchor singen, habe mit sechs Jahren Klavierstunden erhalten. Ein Erweckungserlebnis hatte ich mit acht bei einem Schulkonzert des Hong Kong Philharmonic Orchestra. Der Dirigent – war eine Frau! Aus heutiger Sicht hat mir das sehr geholfen, denn so war das von Anfang an ganz normal – erst später stieß ich dann auf Leute, die meinten, »Frauen dirigieren nicht«. Und dann das Programm: der ›Mars‹, aus Holsts ›Planeten‹, Auszüge aus Tschaikowskys Vierter, Strawinskys ›Sacre du printemps‹ – unglaublich kraftvolle Musik. Ich war dabei völlig auf die Dirigentin fixiert, die wie eine Magierin all das zum Leben erweckte. Ich wollte auch vor dem Orchester stehen. Trotzdem habe ich erst einmal einen Umweg genommen. Ich hatte schon immer den Traum, Detektivin zu werden, ich liebte Sherlock Holmes, ›Akte X‹, ich wollte mich mit Forensik und Psychologie beschäftigen, und das habe ich zunächst auch in den USA studiert. Aber das Herz hat schließlich gegen das Hirn gewonnen. In der Musik fühlte ich mich immer am freiesten. Ich sang damals im Universitätschor und war Assistentin seines Leiters. Dieser bat mich bei einer Probe von Verdis Requiem, das ›Dies irae‹ zu dirigieren. Ausgerechnet diese ikonische, gewaltige Musik, bei der man glaubt, die Hölle öffne sich! Ich war wie vom Blitz getroffen und wusste: Elim, du kannst nichts anderes machen, du musst einen Weg finden, Dirigentin zu werden! Und es hat geklappt!

Was haben Sie auf diesem Weg gelernt?

Fragen der Technik, oder wie man sich eine Partitur aneignet. Aber vieles lernt man tatsächlich nur in der Arbeit mit einem Orchester. Der Wettbewerbsgewinn 2014 war ein großer Schritt, weil ich danach viele Möglichkeiten dazu hatte. Wenn man dann regelmäßig dirigiert, kurzfristig einspringt, trainiert man das schnelle Einarbeiten in neues Repertoire. Aber ich habe auch eine andere Lektion gelernt, merkte, dass meine Mentoren Recht hatten, wenn sie den Karriereweg als schwierig, manchmal auch einsam beschrieben. Ich musste einmal krankheitsbedingt drei Monate Konzerte absagen und so auf die harte Tour lernen, »nein« zu sagen. Aber ich habe meine Entscheidung nie bereut!

Wie definieren Sie dabei Ihre Rolle? Sergiu Celibidache hat Dirigenten mal als »verkappte Diktatoren« bezeichnet, die sich zum Glück mit Musik begnügten …

Dieser Ausspruch stammt wirklich aus einer anderen Zeit, ist in Teilen aber nicht ganz falsch. Ich bin noch jung, vor allem verglichen mit jemandem wie Herbert Blomstedt [lacht], und ich stehe vor hundert Leuten, die sich mit Musik und ihren Instrumenten bestens auskennen und manche Werke schon gespielt haben, als ich noch nicht einmal auf der Welt war. Gerade deswegen ist es für mich als Dirigentin wichtig, die musikalischen Entscheidungen zu treffen. Ich muss von ihnen überzeugt sein, und ich muss sie so vertreten, dass alle mitgehen. Nicht wie ein Diktator, aber doch mit einer Durchsetzungskraft, die ich für mich auch kultiviere. Ich bin ziemlich klein, Asiatin, eine Frau – alles Eigenschaften, die manche Menschen zweifeln lassen. Aber wenn die Musik beginnt, darf das keine Rolle spielen. Dialog ist wichtig, und Respekt. Das bringt das Beste aus allen hervor und lässt uns fliegen!

»Ich liebe das Ballett! Die tänzerische Qualität in Tschaikowskys Musik finde ich besonders anziehend.«

Elim Chan

Sie selbst fliegen ebenfalls um die ganze Welt und dirigieren ein enorm breites Repertoire. Was liegt Ihnen dabei besonders am Herzen?

Russische Musik fasziniert mich sehr, gerade in ihrer Vielfalt. Ich mag ihre Geschichten, ihre Dramatik, ihre Farben. Ich habe mich in ihr immer selbst gefunden, und ich liebe das Ballett, ich habe früher selbst getanzt und bin mit ›Nussknacker‹ zu Weihnachten aufgewachsen! Die tänzerische Qualität in Tschaikowskys Musik finde ich besonders anziehend. Schostakowitsch wiederum hat vor dem Hintergrund der politischen Situation Hongkongs eine große Relevanz. Letztes Mal habe ich beim DSO seine Zehnte dirigiert, die vieles von dem ausdrückt, was ich empfinde, wenn ich meine Geburtsstadt aus der Ferne beobachte. Ich bin auch ein großer Fan zeitgenössischer Musik, besonders von Komponistinnen. Es gefällt mir, dass viele Orchester inzwischen auch Werke von Frauen spielen. Manche haben sogar eine Quote, aber mir geht es vor allem um gute Stücke, die im Repertoire bleiben. Dieses Mal bringe ich eines von Gabriela Lena Frank mit …

Three Latin American Dances, in denen Frank ihre peruanischen Wurzeln erkundet …

Und sie hat auch Vorfahren aus China! Ich habe diese Musik während meines Studiums in den USA kennengelernt und war sofort begeistert. Es gibt darin Einflüsse von Bernstein; der zweite Satz, der die Anden und die Landschaft Perus beschreibt, ist vollkommen modern und erinnert doch an Bartóks Nachtmusik – man spürt das Fallen der Temperatur, taucht ein in die dunkle, kraftvolle Seite der Natur. Man kann die Luftfeuchtigkeit geradezu spüren, das bekommt kaum jemand so hin. Im letzten Satz gibt es Blaskapellen, strawinskyeske Klänge. Frank zollt denen Respekt, die sie beeinflusst haben, und findet dabei doch ihre eigene Stimme – einfach großartig.

Den Tänzen folgen am 11. Dezember Bartóks Zweites Klavierkonzert und Tschaikowskys Vierte. Verbindet sie das Folkloristische?

Ja, aber nicht nur. In allen drei Werken gibt es diese Einflüsse: Tschaikowsky zitiert im Finale der Vierten ganz direkt ein Volkslied, und wiederholt es immer wieder, damit man es auch nicht vergisst. Bei Bartók ist das etwas subtiler, aber sein Zweites Klavierkonzert ist genial konstruiert, es gibt einen großen Bogen, im zweiten Satz ist ein Scherzo in zwei Adagios eingebaut, die sich spiegeln, aber eben nicht komplett. Auch die Form von Tschaikowskys Vierter ist faszinierend. Sie ist seine Antwort auf Beethovens Fünfte, aber er befreit sich dabei zugleich von dieser Tradition, findet seinen eigenen, freieren Weg, verlässt harmonisch eingefahrene Wege. Über Franks Inspiration durch Bartók haben wir ja bereits gesprochen. Die Begeisterung für die Wurzeln und der Umgang mit den unterschiedlichen Einflüssen bindet das Programm zusammen – und natürlich die Tänze.

Porträt Pierre-Laurent Aimard. Foto: Marco Borggreve
Der Pianist Pierre-Laurent Aimard. Foto: Marco Borggreve

Bartóks Zweites Klavierkonzert wird Pierre-Laurent Aimard am 11. Dezember spielen. Haben Sie schon einmal mit ihm zusammengearbeitet?

Nein, das ist das erste Mal. Ich freue mich sehr darauf, weil er so ein meisterhafter und erfahrener Interpret Bartóks ist und man von ihm so viel lernen kann. Er hat das Konzert auch vorgeschlagen.

Sie erzählten vorhin, dass Sie Tschaikowskys Vierte tatsächlich im ersten Konzert Ihres Lebens gehört haben. Was schätzen Sie heute an diesem Werk?

Der Anfang ist so stark und kraftvoll, es ist, als erzählte er bereits die ganze Geschichte. Das Oboensolo im zweiten Satz und die Reaktion des Orchesters darauf hat etwas geradezu Opernhaftes, zugleich sehr Melancholisches. Tschaikowsky beherrscht das Traurige unglaublich gut. Das Scherzo mit seinem Ballettcharakter fegt die Traurigkeit dann wieder komplett hinaus. Im Finale wird’s dann bombastisch, das Volkslied kommt dazu, alles steigert sich ins Unermessliche, doch wenn dann plötzlich das Fatum-Thema aus dem Kopfsatz zurückkommt, dann erdrückt einen das fast. Man spürt Tschaikowkys Ringen mit sich und seinem Leben, und doch findet er am Ende eine Möglichkeit, zu triumphieren. Nach so einem Ritt kann man dann nur noch aufstehen. Von seinen Symphonien ist mir die Vierte fast die liebste!

Zum Abschluss: Haben Sie irgendwelche Pläne für ihren Besuch in Berlin? Was machen Sie, wenn Sie etwas Zeit in einer Stadt haben?

Ich habe Freunde in der Stadt, und ich gehe wahnsinnig gerne essen, in Berlin gibt es so viele spannende Restaurants zu entdecken. Es habe von einem gehört, das nur Produkte aus der nächsten Umgebung verarbeitet. Man darf dort keinesfalls fotografieren, sondern soll sich auf das Essen und seine Geschichte konzentrieren. Das gefällt mir, gerade weil das sonst selbst gerne mache [lacht]. Ich mag auch das Tempo und die Energie der Stadt, mit Leuten aus so vielen Ecken der Welt, die alle ihre Nische finden.

Die Fragen stellte Maximilian Rauscher.

Das Gespräch ist in einer gekürzten Fassung in den DSO-Nachrichten 11/12 2022 erschienen.