Sol Gabetta

Die Ohren öffnen

Sol Gabetta. Foto: Julia Wesely
Sol Gabetta. Foto: Julia Wesely

Sol Gabetta gehört zu den wichtigsten Cellist:innen der Gegenwart. Sie hat das Orchester schon mehrfach auf Tourneen begleitet, am 15. April ist sie nun, mit Elgars Cellokonzert, zum ersten Mal in Berlin beim DSO zu erleben. Patrick Hahn dirigiert dazu ein britisch-amerikanisches Programm.

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Frau Gabetta, Sie sind als Solistin und Kammermusikerin auf den Bühnen der Welt unterwegs, Sie veranstalten Ihr eigenes Kammermusikfestival ›Solsberg‹, haben 2021 die Künstlerische Leitung des Presenza-Festivals in Lugano übernommen, unterrichten eine Meisterklasse in Basel und moderieren für den Bayerischen Rundfunk eine Klassik-Sendung. Wie bekommt man das alles unter einen Hut?

Diese Vielfalt macht mich aus, meine Interessen ließen sich schon früher nicht in eine einzige Schublade stecken. Das kostet natürlich Energie und Kraft, aber ich lebe von dieser Energie, und es macht mich glücklich. Wenn ich zu monoton lebe, dann verliere ich die Kraft, Neues zu entwickeln.

Woher nehmen Sie diese Energie?

Mein Lehrer sagte mir damals: »Nutze die Gelegenheit, dass Du jetzt so viel Zeit hast.« Heute verstehe ich, was er meinte, gerade, seit ich Mutter bin. Mit 20 setzt man den Fokus nur auf die Musik, muss sich dabei aber mehr anstrengen, weil man weniger Erfahrung hat. Heute ist das umgekehrt, Stress entsteht im Alltag. Sobald es um Musik geht, bin ich mental entspannt. Ich bin »da«, mein Körper und meine Seele sind am selben Ort. Diese Momente werden immer wichtiger in meinem Leben. Ich schätze es sehr, dass ich mir die besten Orchester, Dirigenten und Städte aussuchen kann. Was für eine Chance, das zu tun, was man liebt! Das war noch nie einfach, aber gerade nach der Pandemie wurde das noch schwieriger, das sehe ich auch an meinen Schülern. Die jungen Leute haben es nicht so einfach, ihren Weg zu finden, gerade weil es so viele gute Musiker gibt.

Ist das auch Thema in ihrem Unterricht?

Absolut! Die meisten meiner Studenten haben bereits ihr Diplom und suchen nun ihren Weg, ob als Solistin, Kammermusiker oder im Orchester. Das »oder« ist das Problem. Oft trifft das Leben dann die Wahl für einen. Mir geht es vor allem darum, dass sie glücklich mit ihrer Entscheidung werden. Sicherheit, Ruhe und Stabilität – das sind die Voraussetzungen, um sich weiterzuentwickeln. Die meisten sind starke Persönlichkeiten und sehr gut erzogene junge Menschen, mit einem guten Arbeitsethos, auch wenn sich manche Sachen geändert haben. Ich habe zum Beispiel früher nie einen Lehrer von mir geduzt, das wäre total unmöglich gewesen. Das ist heute ein wenig anders, und es stört mich auch nicht, aber es hat einen Einfluss darauf, welches Verhältnis man zueinander hat. Ist man befreundet? Ich denke, eher nicht. Aber man baut ein Vertrauensverhältnis auf, und ich versuche sie bei allem zu unterstützen. Alles was sie brauchen und wissen wollen, das bekommen sie von mir. Sie entwickeln ein Vertrauen, ohne den Respekt zu verlieren. Ich helfe ihnen mit Instrumenten, manchmal mit Konzerten. Mir ist es wichtig, der jüngeren Generation eine Plattform zu geben, ihr zu helfen, weil ich jetzt dazu in der Lage bin. Es gibt nicht Platz für Tausende Cellisten. Wir, die ganz oben sind, müssen dem Nachwuchs auch eine Chance geben, auch weil es nicht unendlich viele Konzertmöglichkeiten gibt.

Sie sind mit 10 Jahren von Argentinien ans andere Ende der Welt gezogen, nach Spanien, zunächst nur mit Ihrer Mutter, um dort zu studieren. Das war sicher eine große Umstellung?

Aus europäischer Sicht sicher, aber in Argentinien oder Venezuela war das damals nicht ungewöhnlich. Mein Vater sagte mir vor Kurzem: »Wir hatten Glück, dass wir 1992 nach Madrid gekommen sind. Damals gab es in Argentinien noch eine große Mittelschicht, die reisen konnte. Ein paar Jahre später hätten wir uns das nicht mehr leisten können.« Was für ein Glück hatte ich, dass sich das so ergeben hat …

Sol Gabetta. Foto: Julia Wesely
Sol Gabetta. Foto: Julia Wesely

Wenn man sich Ihr Repertoire ansieht, so reicht das vom Barock bis in die Gegenwart, Wolfgang Rihm hat unlängst ein Konzert für Sie geschrieben, auch der spanische Komponist Francisco Coll. Welche Werke lieben Sie dabei besonders?

Ganz sicher das Elgar-Konzert. Ich bin immer auf der Suche nach Farben und nach Gesanglichkeit, und dieses Konzert kommt dem sehr entgegen. Beim Concertgebouworkest habe ich gerade ›Schelomo‹ von Bloch gespielt, das dem Instrument ebenfalls eine unglaubliche Plattform bietet. Es gibt nicht viele Cellokonzerte, die das können. Ein symphonisches Konzert wie das von Dvořák ist natürlich beliebt und ich höre es auch selbst gern, aber beim Spielen ist es ein ständiger Kampf mit dem Orchester, weil das einem so viel entgegensetzt. Deswegen ermuntere ich auch zeitgenössische Komponisten, bei neuen Werken unbedingt eine Kadenz zu schreiben, damit das Cello einen Raum hat, zu brillieren. Eine Geige kann sich gut auf den Orchesterklang setzen, und ein Klavier ist sowieso fast ein Orchester für sich. Das Cello hingegen muss oft gegen das Orchester kämpfen. Mir ist es aber wichtig, möglichst viel singen zu können.

Elgars Cellokonzert ist sein letztes großes Werk. Was hat er da geschrieben?

Interessanterweise erst einmal nur eine Melodie, die sich dann zu einem Cellokonzert entwickelt hat. Es ist extrem eindrucksvoll, vor allem Anfang und Ende, die wie zwei griechische Säulen wirken. Erstaunlich, was man dazwischen alles findet! Er schrieb das Konzert am Ende seines Lebens, als es ihm nicht gut ging, aber man vergisst oft, dass es darin nicht nur melancholisch zugeht. Gerade der zweite Satz hat viel Witz und Lebendigkeit. Das ist überraschend! Fast, als gehörte er dort nicht hinein. Und doch: Das ist Teil seines Lebens. Man spricht oft zu wenig über den zweiten Satz und die Verbindung der Sätze untereinander. Die ist enorm stark, was in vielen romantischen Konzerten nicht der Fall ist – abgesehen von Schumann oder Saint-Saëns. Elgar hat hier ein sehr spannendes Format gefunden. Das Interessante ist ja, dass es erst in den 1960er von Jacqueline du Pré wieder populär und berühmt gemacht wurde – was zeigt, wie wichtig die Rolle des Interpreten ist. Das gehört auch zu unserer Aufgabe als Solistinnen – Stücke zu kommunizieren. Denn leider werden sehr gute Stücke auch immer wieder vergessen. Viele Kollegen von mir spielen zum Glück ein breites Cello-Repertoire, bei dem auch ich immer auch noch Sachen entdecken kann. Es genügt nicht, es nur einmal spielen. Man muss es hundertmal wiederholen, damit es so normal wird, dass die Leute Lust bekommen, es wieder zu hören.

Das Konzert begleitet Sie schon lange, Sie haben es bereits zweimal aufgenommen. Wie hat sich Ihre Beziehung dazu verändert?

Ich selbst bin ja auch nicht in jedem Jahr die gleiche. Neue Ideen öffnen neue Türen. Je mehr Einflüsse ich mit einbeziehe – aus anderen Stücken, aber auch aus anderen Kulturen, aus bildender Kunst –, umso besser und umso anders kann ich die Musik verstehen. Man findet immer neue Details, weil man Technik, Intonation, Klang und Phrasierung nach Jahren nicht mehr dieselbe, neue Aufmerksamkeit schenken muss. Wenn mich aber mein eigenes Spiel nicht mehr berührt, dann lege ich ein Stück gerne mal eine Weile zur Seite. Es gibt Stücke, die ich 10 Jahre nicht mehr gespielt habe.

Hören Sie manchmal eigene Aufnahmen?

Es gibt Kollegen, die finden ihr Spiel auf alten Aufnahmen nicht gut. Das geht mir nicht so, ich bin manchmal sogar von mir selbst überrascht. Zur Selbstkritik gehört nämlich auch, zu schätzen, was man damals hatte, aber vielleicht noch gar nicht so sehen konnte. Sich immer im Spiegelbild zu sehen, ist schwer. Früher übernahmen meine Lehrer diese Rolle, heute muss ich selbst streng mit mir sein. Manchmal bin ich heute mit einer Stelle nicht ganz glücklich, und dann höre ich plötzlich eine alte Aufnahme von mir und erhalte dadurch neue Impulse. Ich höre aber auch Aufnahmen von anderen, damit kann man sich immer interessante Blickweisen auf die Musik holen. Das hilft mir, dann mit ganz neuen Ohren an meine eigene Interpretation zu gehen.

Elgars Konzert hat virtuose Stellen, aber kein typisches »concertare« zwischen Orchester und Cello …

Das Schwierigste ist wahrscheinlich der erste Satz. Die ersten Themen des Cellos sind im Pianissimo geschrieben. Das spielt fast niemand so, denn man hört es kaum. Dieses Thema entwickelt sich im ersten Satz vier Mal, und jedem Mal konstruiert Elgar einen dynamischen Aufbau, den man in der Partitur genau sieht und hört. Doch das wird selten so gespielt, weil man es eben nicht so kennt, weil es niemand erwartet. Das ist schade, denn eine vorgefertigte Meinung macht die Ohren zu. Das ist mir auch beim Unterrichten wichtig. Ich will nicht, dass meine Schüler wie ich spielen! Manchmal bieten sie etwas an, das mir erst einmal nicht gefällt. Das bedeutet aber nicht, dass es nicht gut ist. Meine Aufgabe ist dann, ihnen zu helfen, nach ihrem Geschmack und ihrer Interpretation einen Weg zu finden, der überzeugt. Dabei ist es auch wichtig, von sich und seiner Interpretation überzeugt zu sein. Nur dann kann man auch das Publikum überzeugen. Problematisch wird es, wenn Leute – junge, alte, Kritiker, whatever – mit einer fertigen Meinung ins Konzert kommen und nicht mehr zuhören. Wer ein Stück noch nie gehört hat, kommt automatisch mit offenen Ohren, merkt sofort: Es berührt mich – oder nicht.

Ein Konzert soll ja auch überraschen …

Absolut! Allerdings kommen wir da zu einem delikaten Thema. Warum ist ein Konzert meist so aufgebaut, wie wir es kennen? Seit vielen Jahrzehnten hat sich daran wenig geändert, was ich als Solistin schade finde. Es wäre schön, an den Anfang ein kurzes Solostück zu setzen, das die Ohren öffnet, das Instrument und seine Möglichkeiten präsentiert, wodurch man dann das Konzert ganz anders hören kann.

Patrick Hahn. Foto: CG Pictures
Der Dirigent Patrick Hahn. Foto: CG Pictures

Im Konzert am 15. April, das Patrick Hahn dirigiert, ist das der Fall: Der Abend beginnt mit der ›God-music‹ aus George Crumbs Streichquartett ›Black Angels‹, bei dem vier Musiker:innen mit Kristallgläsern Ihr Cello begleiten. Das Quartett war eine Reaktion auf den Vietnamkrieg ähnlich wie Britten Sinfonia da Requiem auf den 2. und Elgars Concerto auf den 1. Weltkrieg. Braucht großartige Musik, provokant gefragt, manchmal Leid und Schmerz?

Das ist ein schwieriges Thema … Ich hatte eine gute Freundin, Mihaela Ursuleasa, eine unglaubliche Pianistin, die mit 33 Jahren gestorben ist und ein schwieriges Leben hatte. Sie hatte eine einmalige Musikalität. Aber die Mischung ist wichtig. Man erreicht durch Leid in der Musik sicher eine Tiefe, und kann, ohne es zu kennen, die Extreme vielleicht nie berühren. Aber genauso braucht die Musik Freude und Euphorie, und man muss sie selbst erlebt haben. Erst durch Kontraste wird die Kunst des Klangs für mich reich. Ein Schauspieler, der monoton liest, ist genauso anstrengend wie einer, der übertrieben artikuliert. Auch in der Architektur: Heute baut man gerne alles glatt und elegant, in schwarz und weiß. Das ist ein Konzept von Schönheit, warum nicht … Mich persönlich sprechen aber Fassaden mehr an, die kleine Unterschiede haben, das lädt dazu ein, näher hinzugehen, sie anzuschauen. Das macht man nicht, wenn es zu glatt ist. Das ist bei Musik ähnlich, wenn sie zu schön ist oder zu glatt, zu viel oder zu wenig Klang hat. Durch Unterschiede und Kontraste wird der Klang reicher. Auf spieltechnischer Ebene spielt das auch eine Rolle: Eine enorme Rolle spielt das Vibrato – auch wieder ein sehr heikles Thema. Manche argumentieren ja, zu Zeiten Mozarts hätte man ohne Vibrato gespielt. Das ist absurd, es stimmt überhaupt nicht, das weiß man aus der Literatur. Vibrato wurde natürlich gebraucht, die Frage ist nur: in welchem Maße? Breiter, kleiner, kürzer, schneller, lauter? Es gibt Milliarden Möglichkeiten. Das merke ich auch bei mir im Unterricht. Das gibt es verschiedene Schulen, die sich inzwischen vermischen: Ein breites, volles Vibrato, wie in der alten russischen Schule, oder die französische mit sehr engem Vibrato. Für mich machen diese unterschiedlichen Arten von Vibrato die Kontraste an einer Fassade aus. Das ist etwas ganz Plastisches, das ist keine Magie. Durch diese Plastizität kann man das im Konzertsaal vielleicht nicht sehen, aber Sie hören es. Es ist faszinierend, was das für Veränderungen bewirken kann. Ich hätte manchmal gerne zwei Hände übereinander [lacht]! Es ändert schon total den Klang, wenn man mit den Fingerspitzen an einer anderen Stelle spielt. Ich muss zunächst einmal eine Klangvorstellung haben, und dann entscheide ich ganz plastisch, welchen Teil meiner Finger ich benutze. Das ist magisch. Der Anschlag auf den Klaviertasten ist natürlich auch sehr individuell, aber sie haben trotzdem etwas Mechanisches. Bei uns Cellisten ist das viel direkter. Die Haut ist unser »Hammer«. Hier macht der Umgang mit den Fingern schon die ganze Musik aus.

Das Instrument ist ja auch nicht unwichtig. Sie spielen mehrere herausragende Celli, seit 2020 ein Stradivari einer Schweizer Stiftung …

Das verwende ich nur bei Projekten mit Darmsaiten und alter Musik. Die großen Konzerte spiele ich auf einem Goffriller-Cello, das etwas präsenter und plastischer klingt. Aber viel wichtiger ist, wie man darauf spielt. Das vermittle ich auch meine Schülern – das Beste aus dem Instrument herauszuholen, das sie gerade haben. Je mehr sie an sich selbst arbeiten, desto besser können sie später mit guten Instrumenten umgehen. Denn solche Instrumente haben eine schwierige Persönlichkeit, sie klingen nicht von alleine gut, sie brauchen eine ideale Einstellung an vielen Stellen, ob Steg, Stimmstock, Saiten … Das »Strad«-Klischee stimmt oft nicht, ich habe schon Instrumente gehört, die gar nicht gut klingen. Ich bin natürlich sehr glücklich, ein Strad zu spielen, aber wenn es morgen weg ist, dann laufe ich nicht weinend über die Straße. Nein! Die Kunst liegt in meinen Händen. Man darf nicht erwarten, dass das Instrument alleine dafür sorgt.

Ist das Instrument für Sie Partner oder Werkzeug?

Es ist definitiv ein Werkzeug, aber das Schönste ist, wenn man das vergisst. Ein Sänger trägt das Werkzeug in sich, aber man sieht es nicht. Vielleicht ist die Stimme deswegen sogar eines der berührendsten Instrumente der Welt. Aber auch eine optische Täuschung. Wie schaffe ich es also, dass der Zuhörer vergisst, dass ich ein Cello spiele, dass man nicht mehr jeden Finger- und Bogenwechsel hört. Man muss eine Stimme hören. Das ist eine große Kunst, eine interessante Kunst.

Zum Abschluss: Wenn Sie ihren Charakter oder Temperament mit einer musikalischen Bezeichnung charakterisieren müssten, was wäre das dann?
Auf jeden Fall wäre ein sforzando dabei … Ich bin als Person auch sehr kontrastierend. Ein freier Geist, der große Ordnung braucht. Ich glaube, man hat nie einen ganz klar definierten Charakter, eher einen sehr gemischten. Weil ich so viel mit Kunst zu tun habe, konnte ich viele Möglichkeiten meiner Persönlichkeit entwickeln, die ich früher nicht kannte. Ich bin von Natur aus eigentlich eher schüchtern, das glaubt mir natürlich niemand, aber in einer schönen Kommunikation blühe ich auf, wenn ich mit anderen etwas teilen kann. Ich versuche, mir das Leben schöner zu machen, ich fühle mich glücklich, dieses Leben zu haben und es leben zu können.

Die Fragen stellte Maximilian Rauscher.

Das Gespräch ist in einer gekürzten Fassung in den DSO-Nachrichten 03/04 2023 erschienen.