Im September 2022 beginnt Robin Ticciatis sechste Spielzeit als Künstlerischer Leiter des DSO. Hier spricht er über seine Konzerte zum Saisonauftakt.
Robin, Sie haben die Sommermonate wie immer als Künstlerischer Leiter des Glyndebourner Opernfestivals im englischen Sussex verbracht. Was machen Sie eigentlich, wenn Sie gerade nicht arbeiten?
Ich liebe es, zu kochen, im Garten zu arbeiten und Zeit mit meiner Frau zu verbringen – all das zusammen ergibt eine großartige Kombination!
Im September stehen Sie wieder am Pult des DSO. Was hat sich hier in den letzten fünf Jahren verändert?
Vieles. Wenn ich es zusammenfassen müsste, würde ich sagen: Als Dirigent bin ich stärker geworden und das Orchester sensibler. Und dabei ist das Vertrauen zwischen uns enorm gewachsen.
Wie geht es in den nächsten Jahre weiter?
In der Zeit nach Covid möchte ich meine Programme so gestalten, dass die Menschen wieder in vollem Umfang zurück in die Philharmonie kommen, ich möchte mit ihnen die Vielfalt der Kunst feiern – und all das, was klassische Musik der Seele geben kann. Dafür bieten sich zahlreiche Möglichkeiten, und in den nächsten Jahren wollen wir sie gemeinsam erkunden.
Welche Rolle spielt für Sie das DSO innerhalb
der Berliner Orchesterlandschaft?
Für mich ist das DSO der Pulsschlag der Innovation in Berlin, wenn es um klassische Musik geht – weil es bereit ist, einfach alles zu tun, auf jede nur erdenkliche Weise zu musizieren und sich dabei für jedes Projekt, jede:n Komponist:in und jeden Moment zu verändern und anzupassen. Für das DSO ist es nicht wichtig, krampfhaft seine »Marke« zu schützen, wie es so viele Kultureinrichtungen tun. Dem DSO geht es darum, die Kunst absolut in den Vordergrund zu stellen.
Am 17. September kann auch das Publikum mitspielen und mitsingen – beim ›Symphonic Mob‹, Berlins größtem Spontanorchester. Was reizt Sie daran?
Beim ›Symphonic Mob‹ ist Musik für alle zugänglich, auf jedem Niveau! Musik stimmt uns fröhlich, sie lässt uns weinen, sie ist ein Geschenk, das wir miteinander teilen können. Die Menschen in der Mall of Berlin gehen vielleicht nur einkaufen, essen oder spazieren. Doch ganz nebenbei kosten sie dabei von der Schönheit der Musik. Für die Mitwirkenden ist das ebenfalls wunderbar: Eine Sechsjährige spielt neben einem Profi des DSO, daneben musiziert ein 80-Jähriger. Beim ›Symphonic Mob‹ gibt es keine Grenzen, nur Offenheit und Freiheit, und das mag ich.
Den Auftakt in der Philharmonie schlagen Sie am 18. September beim Musikfest Berlin mit Feldmans ›Coptic Light‹, Strawinskys Violinkonzert und Sibelius’ ›Tapiola‹. Wie würden Sie das Programm beschreiben?
Als knallhart und gewagt! Das letzte Werk von Feldman, das letzte Orchesterstück von Sibelius. ›Tapiola‹ beschwört den halluzinogenen Schrecken herauf, den man in den Wäldern und Lichtern des Nordens empfinden kann, und ähnlich verhält es sich mit der Art und Weise, wie Feldman durch Klang in die Psyche des Menschen eindringt. Strawinsky fungiert dabei als Kontrastfolie mit Biss und ganz eigenem Klang, wie ein Muskel, der beide verbindet. Es ist kein einfaches Programm, aber ein großartiges, und ich bin sehr gespannt darauf.
Am 25. September folgt dann eine konzertante Aufführung von Ethel Smyths Oper ›The Wreckers‹. Was hat es damit auf sich?
Ich habe mich zwei Jahre lang mit dieser Oper beschäftigt und sie nun vier Monate lang in Glyndebourne mit den Londoner Philharmonikern geprobt und aufgeführt. Es war eine schwierige Geburt, denn das Manuskript lag nur in Einzelteilen vor, und der französische Originaltext war schwer zu beschaffen. Und doch kam dabei die Oper ans Licht, die Ethel Smyth ursprünglich wollte, und die ich für überaus bedeutend halte. Es geht darin um ein Dorf, in dem der Mob herrscht und nach Blut dürstet, aber auch um die Entschlossenheit von Frauen – besonders von Thirza, die gegen die Gruppe aufbegehrt und für ihre wahre Liebe Mark einsteht. Und bereit ist, dafür zu sterben.
Die Musik hat Anklänge an Debussy und Strauss, an den zweiten Aufzug aus Wagners ›Tristan‹, man glaubt Lieder von Fauré und Intermezzi von Brahms zu hören, die aus Smyths Leipziger Zeit stammen. Vor allem aber – und das haben mir meine zehn Aufführungen bewusst gemacht – hört man die Tonsprache von Ethel Smyth. Die ist wild, unverblümt, steigert sich im dritten Akt zu einer Spannung, die sich vor Brittens ›Peter Grimes‹ nicht verstecken muss. Und sie schließt mit einem Liebesduett, einer richtigen Apotheose. Das ist eine der schönsten Musiken, die ich je dirigiert habe. Außerdem passt sie in unsere Zeit, in der die Stimme der Frauen endlich mehr Gehör findet, sei es beim Dirigieren oder beim Komponieren. Deswegen finde ich es großartig, hier das Werk einer Komponistin zu entdecken, das 1906 entstanden ist und schon Gustav Mahler, Bruno Walter und später Thomas Beecham begeistert hat. Ich freue mich also sehr, dieses Stück dem Berliner Publikum vorzustellen.
Auch Ihre anderen Konzerte in der Saison 2022/2023 lassen Spannendes erwarten. Am 19. Februar dirigieren Sie ein ungewöhnliches Programm, in dem sich Werke von Haydn und Ligeti abwechseln. Wie passen diese beiden Komponisten zusammen?
Für ihre jeweiligen Zeit waren beide innovative, überaus originelle Pioniere. Sie haben neue Klänge entdeckt, neue Ausdrucksformen gefunden. Was gibt es Schöneres, als beide miteinander zu verflechten!
›Music and Healing‹ lautet der Titel eines zweiwöchigen Festivals im März, das den Themen Musik, Spiritualität und Transzendenz, dem Einfluss der Musik auf Körper, Geist und Seele gewidmet ist. Was hat Sie an diesem Thema gereizt?
Ich habe schon seit Jahren über die Heilkraft der Musik nachgedacht und mich gefragt, was das eigentlich bedeutet. Das Festival setzt sich damit auseinander, es bringt wunderbare Fachleute aus dem medizinischen und psychologischen Bereich und eine ganz unterschiedliche Auswahl von Musik zusammen – um Fragen aufzuwerfen, zu provozieren, zu beruhigen und im Rahmen von vier Programmen für eine Woche einen Raum der Reflexion zu schaffen.
In der kommenden Saison dirigieren Sie unter anderem Mahlers Dritte Symphonie, Strauss’ ›Ein Heldenleben‹, Händels Oratorium ›Solomon‹ und die Fünfte von Bruckner. Worauf freuen Sie sich besonders?
Ich sage das nicht einfach so, aber so, wie ich für das DSO plane, ist jede Woche ein Highlight. Ich habe das Glück, in einer Stadt arbeiten zu dürfen, in der der Appetit auf interessante Programme und Musik überaus lebendig ist und in der die Kultur immer nach vorne drängt. Jede Woche mit dem Orchester ist für mich eine Entdeckungsreise, jede ist anders und steckt voller Möglichkeiten. Deshalb freue ich mich auf jede Woche mit dem DSO!
Die Fragen stellte MAXIMILIAN RAUSCHER
Alle Konzerte des DSO mit Robin Ticciati finden Sie hier im Überblick.