Friedrich Cerha ist tot

Wegbereiter der Neuen Musik

Der Komponist Friedrich Cerha gehörte zu den wichtigsten Protagonisten der österreichischen Nachkriegsmoderne. 1926 geboren, wurde er noch als Schüler in die Wehrmacht eingezogen, er desertierte, erlebte das Kriegsende als Hüttenwirt, studierte dann in seiner Heimatstadt Wien Violine und Komposition, Musikwissenschaft, Germanistik und Philosophie, er promovierte, musizierte, komponierte. Gründete 1958 das Ensemble ›die reihe‹, wurde zu einem Fürsprecher der Wiener Moderne und der Avantgarde, machte sich als Tonsetzer und Dirigent international einen Namen. Nicht zuletzt mit seinem Orchesterzyklus ›Spiegel‹, seit dem 1980er-Jahren auch mit Opern wie ›Baal‹, ›Der Rattenfänger‹ oder – 2002 – ›Der Riese vom Steinfeld‹. Am meisten kennt man ihn aber wohl für die Vervollständigung von Alban Bergs Opernfragment ›Lulu‹, das unter Pierre Boulez 1979 in Paris erstmals komplett das Licht der Welt erblickte.

Eintrag Friedrich Cerhas in die Köhler-Bände am 16.03.1962.: »Mit vielem Dank für die schöne Zusammenarbeit und die bewundernswerte Meisterung ungewöhnlicher Aufgaben – und besonders für die schöne Uraufführung meiner Mouvements. Ihr Friedrich Cerha« Foto: Archiv DSO
Eintrag Friedrich Cerhas in die Köhler-Bände am 16.03.1962 über zwei Seiten. Foto: Archiv DSO
Österreichischer Abend

In der Geschichte des DSO hat Friedrich Cerha wenige, aber nachhaltige Spuren hinterlassen. Am 17. November 1960 stand erstmals eine seiner Kompositionen auf einem Konzertprogramm des damaligen Radio-Symphonie-Orchesters Berlin – die Uraufführung der ›Espressioni fondamentali‹, die an einem »Österreichischen Abend« erklang, den der Komponist Ernst Krenek dirigierte (das vollständige Programm finden Sie hier im DSO-Archiv).

Eine Saison darauf, am 16. März 1962, stand Friedrich Cerha dann selbst als Dirigent vor dem Orchester und präsentierte ein faszinierendes Gegenwartsprogramm mit zwei Werken von Edgard Varèse aus den frühen Zwanzigerjahren – ›Hyperprism‹ für 9 Blas- und 7 Schlaginstrumente und ›Offrandes› für Sopran und Kammerorchester –, Béla Bartóks Sonate für zwei Klaviere und Schlagzeug, Alban Bergs ›Altenberg-Liedern‹ und György Ligetis epochalem Klangflächen-Wunderwerk ›Atmosphères‹, zudem die Uraufführung seiner eigenen ›Mouvements I – III‹. Nach dem Konzert notierte er in den Autogrammbänden, die der Cellist Heinrich Köhler für das Orchester führte:

»Mit vielem Dank für die schöne Zusammenarbeit und die bewundernswerte Meisterung ungewöhnlicher Aufgaben – und besonders für die schöne Uraufführung meiner Mouvements. Ihr Friedrich Cerha«

Eintrag Friedrich Cerhas in die Köhler-Bände am 14. Januar 1970: »Das war wieder mühsam. Fünf nagelneue schwierige Werke Neuer Musik. Vielen Dank für die gründliche aufopferungsvolle Arbeit – auch im Namen der Komponisten, die oft nicht wissen, wie schwierig die Aufgaben sind, die sie stellen. Und das nächste Mal hätte ich Lust, mit dem RSO einmal was Klassisches zu machen.« Foto: Archiv DSO
Eintrag Friedrich Cerhas in die Köhler-Bände am 14. Januar 1970. Foto: Archiv DSO
Schwierige Aufgaben

Am 14. Januar 1970 leitete Cerha erneut ein Konzert der Reihe ›Musik der Gegenwart‹. Auf dem Programm standen die Uraufführung von Gerald Humels Concerto für Bläser, zwei Deutsche Erstaufführungen – Alfred Schnittkes Zweites Violinkonzert und Bruno Madernas ›Quadrivium‹ für vier Schlagzeuger und vier Orchestergruppen –, Bojidar Dimovs Kammerorchesterstück ›Continuum II – Trauerminuten für Dana Kozanovà‹ und Cerhas eigenes Werk ›Spiegel III‹, das zu seinem bedeutenden Orchesterzyklus gehört. Ein mutiges, ein forderndes Programm – das bekannte Cerha selbst, als er sich nach dem Konzert in die Autogrammbände eintrug:

»Das war wieder mühsam. Fünf nagelneue schwierige Werke Neuer Musik. Vielen Dank für die gründliche aufopferungsvolle Arbeit – auch im Namen der Komponisten, die oft nicht wissen, wie schwierig die Aufgaben sind, die sie stellen. Und das nächste Mal hätte ich Lust, mit dem RSO einmal was Klassisches zu machen. Ihr Friedrich Cerha«

Zu einer weiteren Zusammenarbeit ist es dann aber doch nicht mehr gekommen. Doch Friedrich Cerha war nicht untätig, war noch viele Jahrzehnte als Dirigent und Kompositionslehrer aktiv – zu seinen Schülern zählt unter anderem Georg Friedrich Haas –, und kompositorisch bis ins hohe Alter überaus produktiv. 2009 schrieb er für Martin Grubinger ein Schlagzeugkonzert, das zu einem performativen Aushängeschild des Multiperkussionisten wurde, der unlängst beim DSO seinen Berliner Abschied von der Bühne genommen hat. Mit dem jungen Schlagzeuger Simone Rubino war das beeindruckende Stück 2016 im ›Debüt im Deutschlandfunk Kultur‹ auch beim DSO zu erleben.

Am 14. Februar 2023 ist mit Friedrich Cerha eine der wichtigsten Stimmen der österreichischen Avantgarde verstummt. Der Komponist starb wenige Tage vor seinem 97. Geburtstag.