Autogrammbände

Musikge­schich­te in Hand­schrif­ten

Noch bis ins Jahr 2011 war er regelmäßig in der Philharmonie anzutreffen. Viele kannten den alten Herrn, der nach den Konzerten hinter die Bühne kam, um sich Autogramme zu holen. Doch Heinrich Köhler war nicht irgendein Musikfreund oder Sammler. Er war selbst Musiker, Cellist, langjähriges Mitglied des DSO, und auch nach seinem Ruhestand noch teilnehmender Chronist einer beeindruckenden Orchestergeschichte, die er über 56 Jahre hinweg dokumentierte.

Seit 1953 hatte er Dirigenten und Komponisten, Solistinnen und Solisten gebeten, sich in seinen Büchern zu verewigen, meist nach den gemeinsamen Konzerten. Und er tat es gleich doppelt: einmal privat, und einmal im Namen des Orchesters, auch wenn es dazu nie einen offiziellen Auftrag gab. Im Laufe der Zeit trug er so ein faszinierendes und einzigartiges Dokument der Berliner Musikgeschichte zusammen, in Hunderten von Autogrammen und persönlichen Widmungen. Dem Förderkreis des DSO ist es im Herbst 2019 gelungen, die dem Orchester gewidmeten Bände aus dem Nachlass Heinrich Köhlers, der 2017 im Alter von fast 103 Jahren verstorben war, zu erwerben.

Ein Jahrhundert erlebt …

1914 in Berlin geboren und künstlerisch vielseitig interessiert, begann der begabte Pianist und Cellist Heinrich Köhler zunächst ein Grafikstudium an der Kunstgewerbeschule Berlin und absolvierte dann eine Lehre zum Chemigrafen – einem heute ausgestorbenen
Handwerk in der (foto)grafischen Reproduktionstechnik –, bevor er ein Cellostudium an der Hochschule für Musik aufnahm. Seine Musikerkarriere nahm nach dem Zweiten Weltkrieg beim Berliner Rundfunk-Sinfonieorchester ihren Anfang, 1949 wechselte er als Cellist zum drei Jahre zuvor gegründeten RIAS-Symphonie-Orchester, das später in Radio-Symphonie-Orchester (RSO) umbenannt wurde und seit 1993 Deutsches Symphonie-Orchester Berlin heißt.

Als Mitglied des Orchestervorstandes war Köhler lange Jahre eng mit den Geschicken des Klangkörpers verbunden. Seine bildkünstlerische Begabung ist in Hunderten von Aquarellen dokumentiert, die nicht nur im Haus des Rundfunks ausgestellt wurden, sondern auch Plakate und Programmhefte zierten. Seit 1977 pensioniert, blieb er dem Orchester als regelmäßiger Konzertbesucher treu und führte noch bis 2011 seine Autogrammbücher fort. War er einmal nicht selbst vor Ort, übernahmen Kolleginnen und Kollegen aus dem Orchester oder Büro die Aufgabe. Sechzehn Bände trug er so im Laufe der Zeit zusammen – anfangs in Leder gebunden, eher einfache Notizbücher in den späteren Jahren. Und bis zuletzt ergänzte er mit dem ordnenden Blick des Sammlers unten auf den Seiten in sorgsamer Schrift Namen und Funktion der jeweiligen Künstler. Eine Maßnahme, die dem heutigen Betrachter durchaus entgegenkommt, denn gut leserlich sind bei Weitem nicht alle Einträge.

"Ich bin glücklich, mit meinem orchester wieder eins zu sein. Ihr Ferenc Fricsay (1959). Foto: Archiv DSO
„Ich bin glücklich, mit meinem Orchester wieder eins zu sein. Ihr Ferenc Fricsay (1959). Foto: Archiv DSO

Einblick in die Musikgeschichte

Die großen Namen und Inhalte der vielen hundert Seiten komplett zu erfassen, bleibt eine Aufgabe für die Zukunft. Einige ausgewählte Beispiele wollen wir Ihnen hier aber nicht vorenthalten.

Ferenc Fricsay, der legendäre erste Chefdirigent des DSO, kehrte nach einem Münchner Intermezzo 1959 wieder nach Berlin zurück und wähnte sich »glücklich, mit meinem Orchester wieder eins zu sein«. Yehudi Menuhin, der regelmäßig zu Gast war, unterzeichnete 1956 »zur Erinnerung an das Wiedertreffen alter Freunde«. Auch das einzige Projekt mit Herbert von Karajan ist hier »mit herzlicher Bewunderung für die harmonische Zusammenarbeit« dokumentiert; im September 1955 leitete er das Orchester bei einem Gastspiel des Mailänder ›La Scala‹-Ensembles um Maria Callas mit Donizettis ›Lucia di Lammermoor‹ in der Städtischen Oper, dem heutigen Theater des Westens.

Auf unzählige große Namen der Musikgeschichte stößt man beim Blättern in den Bänden, darunter etwa Claudio Abbado, Friedrich Gulda, Nicolaus Harnoncourt, Vladimir Horowitz, die unlängst verstorbene Jessye Norman, Jacqueline du Pré, Gennadi Roshdestwensky, Mstislav Rostropowitsch, Arthur Rubinstein nach einem Paris-Gastspiel 1968, Georg Solti, George Szell, die Mitglieder des Beaux-Arts-Trios und viele andere – ebenso auf lebende Legenden wie Daniel Barenboim, Herbert Blomstedt, Alfred Brendel, Gidon Kremer, Anne-Sophie Mutter oder Seiji Ozawa. Martha Argerich notierte 1985 über das Musizieren mit dem RSO, »es geht einfach prima!«, und Sir Roger Norrington, der Verfechter des vibratolosen Spiels, lobte schon früh die »great openness to pure tone«. Auch die Chefdirigenten, von Ferenc Fricsay über Lorin Maazel, Riccardo Chailly, Vladimir Ashkenazy, Kent Nagano und Ingo Metzmacher bis zu Tugan Sokhiev, sind allesamt mehrfach vertreten.

Im Namen der Komponisten

"For the Radio Symphony Orchestra with the appreciation of an American Composer". Aron Copland, berlin, Apr 21-22, 1963. Foto: Archiv DSO
„For the Radio Symphony Orchestra with the appreciation of an American Composer“. Aaron Copland, Berlin, Apr 21-22, 1963. Foto: Archiv DSO

Die Einstudierung zeitgenössischer Werke, die das DSO seit Jahrzehnten auszeichnet, erwies sich für alle Beteiligten nicht immer als leichtes Unterfangen. Michael Gielen dankte dem Orchester 1963 »für die angenehme Atmosphäre auf Proben extremer Werke – dass Sie diese Zeit mit Humor kolorieren …« und schrieb amüsiert fünf Jahre später: »Diesmal war es ein ganz neues RSO-Gefühl: mit TONALER Musik!« Im Januar 1970 notierte der Komponist und Dirigent Friedrich Cerha: »Das war wieder mühsam. Fünf nagelneue schwierige Werke Neuer Musik. Vielen Dank für die gründliche aufopferungsvolle Arbeit – auch im Namen der Komponisten, die oft nicht wissen, wie schwierig die Aufgaben sind, die sie stellen. Und das nächste Mal hätte ich Lust, mit dem RSO einmal was Klassisches zu machen.«

Unter den Komponisten findet sich auch Igor Strawinsky, der im Oktober 1956 eigene Werke dirigierte und dem Orchester »für das Vergnügen, das ich beim Musizieren mit ihm werend der Berliner Festwochen hatte«, dankte. Paul Hindemith, viermal beim DSO zu Gast, schrieb im Februar 1957 mit einem Augenzwinkern: »Liebe Kollegen, mir war’s eine große Freude, Ihnen hoffentlich mindestens eine kleine.« Auch Olivier Messiaen hat sich nach einer Aufführung seiner ›Chronochromie‹ im Juni 1961 hier verewigt, Hans Werner Henze nach einem gemeinsamen Konzert in Venedig 1962, der große Cellist Pablo Casals, der 1963 sein Oratorium ›El Pessebre‹ dirigierte, und Benjamin Britten 1964 nach der Deutschen Erstaufführung seines ›War Requiem‹ in der Basilika Ottobeuren mit Peter Pears und Dietrich Fischer-Dieskau; ebenfalls Aram Chatschaturjan, György Ligeti, Luigi Nono, Arvo Pärt, Krzysztof Penderecki, und Aribert Reimann, dessen künstlerische Vita das DSO seit Langem begleitet. Wolfgang Rihm unterschrieb als »begeisterter Lauscher« seiner Musik, und Aaron Copland, der im April 1963 Eigenes dirigierte, zeichnete »with the appreciation of an American composer« und notierte darunter die ersten vier prägnanten Bläsertöne seiner ›Orchestral Variations‹.

Notenköpfe finden sich nicht nur bei den Komponisten – Wilhelm Kempff notierte 1971 ein paar Takte aus Beethovens c-Moll-Klavierkonzert S. 47 –, und ab und an stößt man auch auf kleine Skizzen: Rudolf Buchbinder zeichnete sich am Klavier, Yutaka Sado gestaltete seine Unterschrift als dirigentische Comicfigur, und Patricia Kopatchinskaya malte eine grinsende Violine.

In unserem Jubiläumsblog ›75 Jahre DSO‹ werden wird Ihnen ab sofort regelmäßig Fundstücke und Preziosen aus der reichen Sammlung aus Widmungen und Autogrammen vorstellen. Es gibt viel zu entdecken!