2.10.1964

Berthold Goldschmidt mit Mahlers Zehnter

Berthold Goldschmidt, Widmung an das DSO (damals RSO) am 2.10.1964 in der Köhler-Bänden. Foto: Archiv DSO
„Den Künstlern des Radio Symphonie Orchesters diese Zeile des Dankes für eine wundervolle artistische und menschliche Zusammenarbeit anlässlich der deutschen Erstaufführung von Mahlers Zehnter Symphonie – auch im Namen von Mr Deryck Cooke, dessen Entdeckung und Realisierung des grossen Werkes unser Treffen indirekt verursacht hat. Mit allen guten Wünschen für eine [bedeutende] internationale Zukunft, Yours sincerely, Berthold Goldschmidt. Berlin, 2. X. 64“ – Widmung in den Köhler-Bänden. Foto: Archiv DSO

Am 2. Oktober 1964 stand Berthold Goldschmidt erstmals am Pult des DSO (damals Radio-Symphonie-Orchester Berlin). Er leitete die gefeierte Deutsche Erstaufführung der von Deryck Cooke und ihm selbst erstellten ersten vollständigen Fassung der Symphonie Nr. 10 von Gustav Mahler. Zeugnis dieser Zusammenarbeit legt noch heute seine Danksagung an das Orchester ab, die er in den Autogrammbänden des ehemaligen DSO-Cellisten Heinrich Köhler niederschrieb (siehe Bild). Nur wenige Wochen zuvor, am 13. August 1964, hatte Goldschmidt bei den BBC Proms die Uraufführung mit dem Philharmonia Orchestra geleitet.

Mahlers Zehnte

Mahlers Arbeit an der Zehnten war 1911 durch seinen Tod jäh unterbrochen worden. Einzig der erste Satz – ein ausladendes Adagio, das alleinstehend Bestandteil des internationalen Konzertrepertoires wurde und auch beim Musikfest Berlin am 19. September erklang – und der dritte lagen im Partiturentwurf vor. Seit 1941 gab es immer wieder Versuche einer Vervollständigung, Cookes Fassung ist aber die bis heute meistgespielte. Gemeinsam mit dem aus Deutschland emigrierten Dirigenten und Komponisten Berthold Goldschmidt studierte der englische Musikwissenschaftler Mahlers Skizzenmaterial, um eine Rekonstruktion zu realisieren. Authentizität behaupteten sie dezidiert keine, denn der Komponist hat bis zur Vollendung seiner Partituren und auch nach den ersten Aufführungen meist noch Änderungen vorgenommen.

Berthold Goldschmidt (1903–1996)

Berthold Goldschmidt stand am Beginn einer vielversprechenden Karriere: Der gebürtige Hamburger hatte Dirigieren und Komposition in Berlin studiert, als Meisterschüler Franz Schrekers. Er wirkte als Assistent Erich Kleibers an der Berliner Staatsoper und war als Korrepetitor 1925 an den Proben von Alban Bergs ›Wozzeck‹ beteiligt. Er hatte einen Vertrag mit der Universal Edition, reüssierte mit eigenen Werken von der Kammermusik bis zur Oper. Doch die Machtübernahme der Nationalsozialisten setzte dem ein jähes Ende: Als Jude, als Verfasser »entarteter Musik« passte er nicht mehr ins neue Bild. Wie viel zu wenigen gelang ihm rechtzeitig, 1935, die Emigration nach Großbritannien. Und wie vielen anderen Künstlern im Exil gelang auch ihm kein Anknüpfen mehr an frühere Erfolge. Denn der Verlust der Heimat ging nicht nur einher mit der Ermordung von Verwandten und Freunden, sondern auch mit dem dauerhaften Verschwinden einer ganzen Musikkultur. Serialismus, elektronische Musik – das waren die musikalischen Schlagworte der Nachkriegszeit. Für das, was noch kurz zuvor das Neue, Aufregende gewesen war, gab es nun keinen Platz mehr.

Wiederentdeckung und späte Schaffenskraft

In London arbeitete Goldschmidt zunächst für die BBC und später vor allem als Dirigent. Doch als Komponist konnte er, trotz einiger Achtungserfolge in den 50er-Jahren, nach dem Krieg kaum mehr Fuß fassen, er schwieg fast ein Vierteljahrhundert lang. In den 80er-Jahren begann die Musikwelt, seine Kompositionen wiederzuentdecken – Kammermusik, vor allem aber seine Bühnenwerke: ›Beatrice Cenci‹ von 1951 wurde 1988 in England konzertant uraufgeführt. Und die DSO-Ersteinspielung unter der Leitung Lothar Zagroseks, die 1994 in der DECCA-Reihe ›Entartete Musik‹ erschien, eröffnete der Oper ›Der gewaltige Hahnrei‹ über 60 Jahre nach Ihrer Mannheimer Uraufführung wieder einen Weg auf die Opernbühnen. Schließlich kehrte auch Goldschmidts eigene Schaffenskraft zurück, es entstanden unter anderem zwei großartige Streichquartette und – im Alter von 93 Jahren – die ›Deux nocturnes‹ für Sopran und Orchester.

Die Autogrammbände Heinrich Köhlers legen beredtes, prominent beschriebenes Zeugnis ab von den Menschen, mit denen das DSO seit 1953 zusammengearbeitet hat. Heinrich Köhler war Cellist, langjähriges Mitglied des DSO und auch nach seinem Ruhestand noch teilnehmender Chronist einer beeindruckenden Orchestergeschichte, die er über 56 Jahre hinweg dokumentierte. Seit 1953 hatte er Dirigenten und Komponisten, Solistinnen und Solisten gebeten, sich in seinen Büchern zu verewigen, meist nach den gemeinsamen Konzerten. Im Laufe der Zeit trug er so ein faszinierendes und einzigartiges Dokument der Berliner Musikgeschichte zusammen, in Hunderten von Autogrammen und persönlichen Widmungen. Dem Förderkreis des DSO ist es im Herbst 2019 gelungen, die dem Orchester gewidmeten Bände aus dem Nachlass Heinrich Köhlers, der 2017 im Alter von fast 103 Jahren verstorben war, zu erwerben. Mehr zu Heinrich Köhler und der Sammlung lesen Sie hier.