Das DSO und die neue Musik

Architektur des künstlerischen Bewusstseins

Ein riesiger Kosmos an Musik steht heute jedem zur Verfügung, der sich dafür interessiert – in Konzerten, Noten, auf Bild- und Tonträgern, Servern und Streamingplattformen des weltweiten Netzes. Fast alles ist potenziell gegenwärtig, unabhängig davon, wann es entstand. Was heißt in dieser virtuellen Omnipräsenz der Epochen eigentlich: »neu«? Das, was ich nicht kenne? Oder gibt es Übergreifendes, das vielleicht alle angehen und viele ansprechen kann? Mit Robin Ticciati sucht und gibt das DSO auf die allgemeinen Fragen konkrete Antworten; sie sind durch die Pandemie noch dringlicher geworden. Gewohnte Konzert-, Darstellungs-, Vermittlungs und Kooperationsformen kommen auf den Prüfstand, neue werden erprobt. Musik heutiger Komponist*innen nimmt in Ticciatis Überlegungen einen festen Platz ein. Er kann auf Leistungen seiner Vorgänger aufbauen, und er kann sich auf ein Orchester verlassen, zu dessen DNA die Vermittlung neu komponierter Werke und das Verlangen nach frischen ästhetischen Erfahrungen gehören.

Mit weit über 400 Ur- und Erstaufführungen von 274 Komponist*innen
in 75 Jahren spielten Musik der Gegenwart und mitunter auch historische
Neuentdeckungen eine prägende Rolle im Repertoire des DSO. Die Namensgröße illustriert die Häufigkeit von Premieren der Komponist*innen beim DSO.

Unterbrochene Traditionen

Für ein Ensemble, das eineinhalb Jahre nach Shoah und Krieg gegründet wurde, um einen kulturellen Neubeginn mitzutragen, war diese genetische Programmierung notwendig. Als modern galt damals alles, was die NS-Doktrinen überwand, und das war ein weites Spektrum. Bei der Werkauswahl ergänzten sich zwei Blickrichtungen: die nationale, nach innen gewandte, und die internationale, weltorientierte. Unter den Weltbürgern neuer Musik erhielt Igor Strawinsky den Spitzenplatz kurz vor Bartók. Im ersten Vierteljahrhundert der DSO-Geschichte wurden seine Werke in 77 Konzerten gespielt, sechs davon waren reine Strawinsky-Programme; drei dirigierte Ferenc Fricsay, je eines der Komponist selbst, sein langjähriger Assistent Robert Craft und der Schweizer Musikmäzen Paul Sacher. Als Beispiele für das Anknüpfen an unterbrochene Traditionen können Paul Hindemith und Arnold Schönberg stehen. Vor ihrer Emigration hatten beide in Berlin wichtige Positionen als Kompositionslehrer inne, Hindemith leitete außerdem die Rundfunkversuchsstelle an der Musikhochschule. Das DSO spielte seine Werke, er selbst dirigierte drei Konzerte. Musik von Schönberg steht seit dem 7. März 1948, als die Erste Kammersymphonie im Steglitzer Titania-Palast erklang, in lockerer Kontinuität auf Programmen des Orchesters. In dosierter Auswahl wurde sie teils Repertoire, teils Ausnahmeereignis wie die monumentalen ›Gurre-Lieder‹ oder das Oratorienfragment ›Die Jakobsleiter‹; dessen Aufführungen durch Kent Nagano (2001 zur Eröffnung des Jüdischen Museums) und Ingo Metzmacher (zum Musikfest Berlin 2015) zählen zu den denkwürdigen Ereignissen der Orchesterhistorie. Ein markantes Datum in der Frühgeschichte des DSO war der 28. Februar 1951 mit der Deutschen Erstaufführung des Violinkonzerts von Alban Berg, dem 1935 verstorbenen Freund und Schüler Schönbergs.

Berliner Töne

Regelmäßig stellte das DSO Werke von Komponisten vor, die in Berlin vor allem als Hochschullehrer wirkten. Damit wurde die Vernetzung der Kulturinstitutionen in der Stadt neu belebt. Besondere Bedeutung kam dabei Boris Blacher zu, dem langjährigen Hochschuldirektor, und seinen Schülern, unter ihnen Gottfried von Einem (über dessen Oper ›Dantons Tod‹ Ferenc Fricsay zum DSO kam), Aribert Reimann, dessen Zusammenarbeit mit dem DSO seit 1960 andauert, Isang Yun, dessen Laufbahn in Deutschland durch eine gewaltsame Entführung unterbrochen wurde, und manch anderer, der heute nur noch wenigen bekannt ist. Frank Michael Beyer, der seine Jugend im Exil und vor den Nazis versteckt zubrachte, Schüler Ernst Peppings, war mit seinen Werken ab 1958 immer wieder vertreten. Dazu kam Werner Egk, Blachers Vorgänger als Hochschuldirektor; er konnte seine Aktivitäten während der NS-Zeit später lange verdeckt halten und damit auch international so manchen täuschen. Die Uraufführung seiner Rameau-Suite dirigierte Fricsay am 31. Januar 1950 in einem Konzert mit ›Werken deutscher zeitgenössischer Komponisten‹ zusammen mit von Einems Serenade op. 10, Blachers Erstem Klavierkonzert op. 28 und Ausschnitten aus Orffs ›Carmina burana‹ – das Programm enthält die ganze Problematik einer Komponistengeneration, deren prägende Jahre in die Zeit des Nationalsozialismus fielen.

Im internationalen Repertoire konzentrierte sich das damalige RIAS-Symphonie-Orchester zunächst auf Komponisten aus den USA, Frankreich und Großbritannien, den westlichen Gewährsmächten. Bedeutsam bleiben Sergiu Celibidaches Einstand mit einem Gershwin-Programm (Oktober 1948) und ein Sonderkonzert, das Samuel Barber mit eigenen Werken bestritt (21. Februar 1951). Französisches Repertoire wurde bis in die jüngere Zeit nicht so oft und vielfältig gespielt wie im ersten Jahrzehnt des DSO. Mit Benjamin Britten, Michael Tippett, Ralph Vaughan Williams und William Walton wurden führende britische Tonsetzer jener Jahre bekannt gemacht. Den europäischen Horizont weitete Musik schwedischer, italienischer und spanischer Komponisten. Schostakowitsch, in den USA umstritten, aber anerkannt, wurde erstmals im März 1961 gespielt. Denkwürdig auch ein Konzert im Vorfeld des 20. Gründungsjubiläums: Lukas Foss, 1922 in Berlin als Lukas Fuchs geboren, 1933 in die USA emigriert, dirigierte eigene Werke, Schönberg, Xenakis, Haydn und die Deutsche Erstaufführung von Schostakowitschs Zweitem Violoncellokonzert mit dem Widmungsträger Mstislaw Rostropowitsch – eine Demonstration gegen den Kalten Krieg. Entscheidende Akzente aber setzte schon Ferenc Fricsay mit Werken Béla Bartóks.

Gegenwartsmusik

Die Förderung neuer Musik war im Bildungsauftrag der Rundfunkanstalten verankert; auch darin wirkten kulturpolitische Maximen der 1920er-Jahre weiter. Nachdem Karl Amadeus Hartmann in München 1945 die ›Musica viva‹ initiiert hatte, die 1948 in die Trägerschaft des Bayerischen Rundfunks überging, richtete der 1945 von den Westalliierten eingesetzte Nordwestdeutsche Rundfunk (NWDR) 1951 im Kölner Funkhaus die Reihe ›Musik der Zeit‹, in Hamburg ›Das neue Werk‹ ein. Der Sender Freies Berlin (SFB), 1954 aus dem NWDR hervorgegangen, wählte für seine Initiative den Titel einer Konzertreihe, die 1936 bis 1938 in Wien von Künstlern aus dem Schönbergkreis geleitet wurde: ›Musik der Gegenwart‹ startete 1955; bis heute haben in dieser Reihe rund 230 Konzerte stattgefunden. Nachdem die Trägerschaft für das DSO 1956 neu geregelt war, beteiligte sich das Orchester regelmäßig daran, erstmals am 4. Dezember 1958. Mit Werken von Boris Blacher, seinem Schüler Heimo Erbse, dem exilierten Ernst Toch und Rudolf Hartung knüpfte es an die bisherige Repertoirepolitik an. Avancierteres kam sukzessive in die Programme; in den Hochzeiten der Avantgarde bestimmte es das Bild. Johann Friedrich Hasse, der treibenden Kraft beim Sender, gelang es 1964, die zweite und damit die Deutsche Erstaufführung von Gustav Mahlers Zehnter Symphonie in der Ergänzung von Deryck Cooke und Berthold Goldschmidt nach Berlin zu holen. Goldschmidt dirigierte – fast 30 Jahre nach seiner Emigration aus Deutschland, und über 20 Jahre, ehe seine eigenen Werke hier wieder Beachtung fanden.

Zusammen mit den Abonnements- und Sonderkonzerten bildete ›Musik der Gegenwart‹ ein duales System, in dem das DSO viele Ur- und Erstaufführungen leistete. Von Wolfgang Rihm wurden wiederholt neue Werke vorgestellt, ein Höhepunkt war die Uraufführung seiner Oper ›Dionysos‹ bei den Salzburger Festspielen 2010 unter Ingo Metzmachers Leitung. Pierre Boulez, Vinko Globokar, Sofia Gubaidulina, György Kurtág, Helmut Lachenmann, Luigi Nono, Arvo Pärt, Krzysztof Penderecki, Dieter Schnebel, Alfred Schnittke, Iannis Xenakis – die Liste renommierter Namen lässt sich lange fortsetzen. Vom DSO wurden sie meist gespielt, bevor sie breitere Bekanntheit erlangten. Einige standen selbst als Dirigenten am Pult des Orchesters, so Michael Gielen, Ladislav Kupkovic, Bruno Maderna, Karl-Heinz Stockhausen und Hans Zender.

In der Ära von Riccardo Chailly und Peter Ruzicka kamen zwei wichtige Initiativen hinzu: Neuentdeckungen wurden durch Wiederentdeckungen ergänzt. 1986 eröffnete Gerd Albrecht, als Dirigent dem DSO lange verbunden, die Reihe ›Wege zur Neuen Musik‹. Im Gespräch mit den Komponist*innen und mit Klangbeispielen führte er in ein Werk ein, das er abschließend ganz dirigierte. Die Veranstaltungen wurden aufgezeichnet, fernsehgerecht aufbereitet und vom SFB ausgestrahlt. Ihre Idee wirkt bis heute weiter in den Educationprogrammen, die inzwischen jedes Orchester auflegt, und in den moderierten Casual Concerts, die Ingo Metzmacher 2007 einführte – ohne explizit pädagogischen Anspruch. Der Tendenz zu festivalartigen Konzeptionen in der neuen Musik folgen Deutschlandradio und SFB (bald rbb) seit 1999 mit dem Festival ›Ultraschall Berlin‹, in das die Reihe ›Musik der Gegenwart‹ einging.

Innovation als Chefsache

Neue(re) Musik und Neubewertungen des tradierten Repertoires waren immer auch Chefsache, bei Fricsay, bei Maazel, bei Chailly und bei ihren Nachfolgern. Vladimir Ashkenazy, der zur (Post-)Avantgarde eher Distanz hielt, stellte in der Reihe ›Open Windows‹ je ein Solokonzert aus dem 20. Jahrhundert einem klassisch-romantischen Werk gegenüber. Unter Kent Nagano rückte neue Musik weit in den Vordergrund. Er initiierte mit Deutschlandradio und dem Arnold Schönberg Center Wien den Arnold Schönberg-Preis, der von 2001 bis 2008 an Komponist*innen vergeben wurde und mit einer Residenz beim DSO verbunden war. George Benjamin, Unsuk Chin, Aribert Reimann und Jörg Widmann konnte man so in der Breite ihres Schaffens genauer kennenlernen. Mit Messiaens großen Werken, mit der Pariser Uraufführung von John Adams’ ›El Niño‹ setzten Nagano und das DSO Zeichen der Modernität weit über das Berliner Musikleben hinaus. Sein Nachfolger Ingo Metzmacher erlangte gar sein Renommee als Interpret neuer Musik. In der Berliner Erstaufführung von Helmut Oehrings ›Blaumeer‹ und mit ›Aufbruch 1909‹ als Themenschwerpunkt seiner zweiten Saison lagen seine herausragenden Bekenntnisse neuer Musik. Robin Ticciati hat sich die unterschiedlichsten Kooperationen mit jungen Kreativen auf die Fahnen geschrieben. Er lenkte das DSO in einen Dialog mit innovativen Geistern der Clubszene, machte Helen Grime, die britische Komponistin, und Ondřej Adámek, den Wahlberliner aus Prag, dem hauptstädtischen Publikum näher bekannt.

Ticciati führt damit die Tradition des Orchesters fort, die Offenheit für neue künstlerische Gedanken und Ausdrucksformen der Gegenwart mit dem neugierigen Blick in die Vergangenheit zu verbinden und damit als Klangkörper relevant zu bleiben, ohne sich kurzlebigen Moden zu verpflichten. Wie geht es weiter? Neuen Ideen sind keine Grenzen gesetzt. Wir brauchen sie heute, in und hoffentlich bald nach einer Krisenzeit dringender denn je. Krisenzeit ist auch Gründungszeit – für eine neue Architektur unseres künstlerischen Bewusstseins.

HABAKUK TRABER

Habakuk Traber studierte Kirchenmusik, Musikwissenschaft, Soziologie und Geschichte in Stuttgart, Tübingen und Berlin. Bis 1995 arbeitete er als Kirchenmusiker in Berlin, schrieb diverse Bühnenmusiken und Beiträge für Fachzeitschriften und Rundfunkanstalten. Anschließend machte er seine publizistische Tätigkeit zum Hauptberuf. Er schreibt Programmhefte und hält Einführungsvorträge für das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin, das Musikfest Berlin und das Konzerthaus Berlin, das NDR Sinfonieorchester, das Seoul Symphony Orchestra und diverse Festspiele, verfasst einführende und begleitende Texte für CD-Produktionen. Von 2002 bis 2018 war er Dramaturg der Münchener Biennale, des Festivals für neues Musiktheater. Lange Jahre beschäftigte er sich mit Recherchen über Komponisten, die von den Nationalsozialisten zum Exil gezwungen wurden. Er veröffentlichte Bücher über »Verdrängte Musik«, zur Musikgeschichte Berlins sowie Artikel und Bücher über zeitgenössische Komponist*innen.